Ende des Bergbaus im Ruhrgebiet
Mehr als 30 Jahre hat Holger Kenda Steinkohle im Ruhrgebiet abgebaut. Gern würde er das auch weitere zehn Jahre machen. Doch im Dezember geht die Kohle-Ära im Pott zu Ende – endgültig.
— Von Antje Seemann
Kapitel 1
Wenn eine Ära zu Ende geht
Um 17.53 Uhr hält der Förderkorb rumpelnd am Schacht 10 des Bergwerks Prosper-Haniel in Bottrop. Rund 40 Männer kommen nach sechs Stunden in 1200 Meter Tiefe wieder an die Erdoberfläche zurück. Die schweren Eisengittertüren öffnen sich.
Holger Kenda steigt mit seinen Kollegen aus, das Gesicht voller Kohlenstaub, die traditionelle Bergmannskleidung durchgeschwitzt. Er kommt mit strammen Schritten auf einen zu, hebt seinen Helm und winkt damit. “Mensch Holger, geschafft!”, ruft einer der Kollegen ihm zu.
Für den Strebmeister1 ist jetzt Ende. Ein für allemal. Vorruhestand mit 49 Jahren. Das Grinsen bekommt er kaum aus dem Gesicht. “Geschafft!”, ruft er zurück. Für Holger war es das letzte Mal unter Tage. Die letzte Schicht. “Heute sind alte Kollegen noch mal mit mir angefahren2. Das war schon besonders.” Oben wartet schon die nächste Schicht auf ihre eigene Seilfahrt3. Viele klopfen Holger auf die Schulter*, umarmen ihn. Helm ablegen, Sicherheitsschuhe ausziehen. “Danach noch nen Döner, Currywurst, Cola. Einfach noch was quatschen”, sagt er. Verabschiedung auf Männerart. Mit den anderen Bergmännern verschwindet er in die Kaue4, den Waschraum der Bergleute. Am 21. Dezember ist hier für alle Schicht im Schacht. Dann ist die letzte Ruhrpott-Zeche5 überhaupt Geschichte.
Es war ein Abschied auf Raten. Das Ende der deutschen Steinkohleförderung hatte die Politik 2007 beschlossen. 2018 laufen die Subventionen für die Bergwerke aus. Deshalb gibt es nur noch zwei Steinkohlenbergwerke in Deutschland – in Ibbenbüren und eben in Bottrop.
Für viele Bergmänner bedeutet das nicht nur den Abschied von ihrem Arbeitsplatz. Es bedeutet auch den Abschied von einer ganz eigenen Kultur, einem Teil ihrer Identität.
Holger Kenda begann seine Lehre 1985. Seine Eltern hätten ihn lieber in einem anderen handwerklichen Beruf gesehen, erzählt er in seinem Wohnzimmer in Dinslaken. Fliesenleger zum Beispiel. Aber Holger wollte auf den Pütt6, obwohl die Arbeit unter Tage schmutzig ist und gefährlich und krank machen kann. Die vergleichsweise gute Bezahlung war ein Anreiz. Vor allem aber liegt ihm diese Arbeit im Blut. Auch sein Vater war Bergmann, sein Opa und sein Urgroßvater. “Ihre Geschichten haben mich neugierig gemacht“, sagt Kenda.
Natürlich wohnt er in einer Zechensiedlung, hat das Haus mit viel Liebe renoviert und modernisiert. Nicht weit von dort – an der Zeche Lohberg – ist er das erste Mal unter Tage gefahren. Seitdem beginnt er jeden Arbeitstag mit demselben Ritual: In die Kaue, ausziehen (komplett), die eigenen Klamotten an einen Haken unter die Decke hängen. Seine Berufskleidung stellt der Arbeitgeber: Nicht nur Sicherheitsschuhe und Schienbeinschoner, Arbeitsjacke und Atemschutzgerät, Schutzbrille, Helm und Handschuhe, sondern auch Hemd und Halstuch, Socken, Unterhemd und sogar die Unterhose. 100 Prozent Baumwolle, belastbar, waschbar – und sicher. Kunstfasern könnten winzige Funken verursachen, Feuer, Explosionen.
Die Gefahr fährt unter Tage immer mit. Gesteinsbrocken können sich lösen und auf die Arbeiter fallen, überall laufen gigantische Maschinen, neben denen Menschen nicht nur zerbrechlich wirken, sondern es auch sind. Große Unglücke mit Toten oder Schwerverletzten passieren in Deutschland nur noch sehr selten. Aber sie passieren.
Vor 18 Jahren hat es Holger selbst getroffen. Damals arbeitet er noch auf Lohberg. Eine Stützelement löst sich und trifft ihn unglücklich. Fast sechs Wochen muss er im Krankenhaus bleiben. Damals denkt er darüber nach aufzuhören, aber er macht weiter. Der Stolz des Bergmanns ist größer als die Angst vor einem erneuten Unfall.
Wer nur die Welt über Tage kennt, kann sich kaum vorstellen, wie es in einem Bergwerk ist. 36 Grad Hitze, 90 Prozent Luftfeuchtigkeit. Und jedes Mal, wenn der riesige Hobel7 mit Karacho am Flöz8 vorbeijagt und Kohle aus dem Gestein schürft, werden neuer Staub frei, neue Hitze, neuer Wasserdampf. Schon das Zusehen ist schweißtreibend, aber hier ist ständig jemand in Bewegung. 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche.
Holger hat zuletzt vor allem tagsüber gearbeitet, und als Strebmeister, also Vorarbeiter, war er meist schon früher da. Sechs Tage die Woche, sechs Stunden am Stück, die sich länger anfühlen.
Zu jedem Schichtwechsel um 5 Uhr oder 11 Uhr, 17 Uhr oder 23 Uhr drängen die Bergleute in den Förderkorb. Ein Mitarbeiter schließt die schweren Türen, ein Alarm geht los. Achtung: Seilfahrt! Dann rauscht der Förderkorb mit 12 Metern pro Sekunde in die Tiefe. Bis hinunter auf rund 1.200 Meter Teufe, auf die siebte Sohle, die letzte überhaupt, die im deutschen Steinkohlenbergbau eröffnet wurde. Eigentlich hätten im Förderkorb 40 Kumpel Platz. Aber mittlerweile ist der Korb nicht mal halbvoll.
Die Farbcodes der Schutzhelme im Bergbau
Wenn Holger aussteigt, fängt er nicht sofort an, Kohle abzubauen. Nach der Seilfahrt steht er zuerst in einem taghell beleuchteten Tunnel. Hier kreuzen sich unterirdische Wege mit einer Gesamtlänge von 104 Kilometern. Fast wie die Fahrrad- und Wanderwege über Tage, in der idyllischen Wald- und Auenlandschaft der Kirchheller Heide. Aber sehr viel düsterer und beengter. Manche Gänge sind sogar zum Stehen zu niedrig; dann geht Holger tief gebückt.
Ein frischer Luftstrom zieht durch den Schacht, damit auch der letzte Mann ganz am Ende der Sohle noch genug Frischluft zum Atmen bekommt. Rechts reihen sich Stromanlagen aneinander, teils mit 5000 Volt, teils mit 10.000 Volt Spannung.
Die Farbe des Helms verrät die Aufgabe seines Besitzers. Elektriker zum Beispiel tragen gelb, Holger weiß. Nach und nach kommen alle an ihrem Arbeitsplatz an – zu Fuß oder auf ein Förderband gekauert. Bis Holger den Streb erreicht hat, dauert es länger als eine halbe Stunde. Der Weg zählt mit zur Schicht. Das Baufeld trägt den Namen „BF HO, Flöz H, BH 373, Rev. 006“. Wenig klangvoll, aber umso informativer. Es ist das letzte Hobelrevier in Deutschland. Im August 2018 wird es “ausgeraubt” sein sein, wie es in der Bergmannssprache heißt. Ein neues wird - trotz reicher Vorkommen - nicht mehr eröffnet.
Theoretisch reicht das Kohlevorkommen auf der 7. Sohle noch für etwa 20 Jahre Abbau. Praktisch wird am 21. Dezember die letzte Kohleschicht gefahren. Danach müssen die Geräte raus, das Streckennetz abgerissen, der Schacht geschlossen werden. Dafür hat die RAG noch ein gutes Jahr Zeit. „Sollte es doch noch anders kommen“, sagt Holger, „würde ich bestimmt noch zehn Jahre weitermachen“. Mit 49 Jahren darf er zwar in Rente gehen, doch wenn es ginge, würde Holger noch nicht die Finger von der Kohle lassen. Für die Zukunft hat er auch Pläne. Erstmal Urlaub, Paris sehen, durch Deutschland fahren, an den Bodensee. Kraft tanken, schöne Erinnerungen sammeln. Kumpel wird er trotzdem bleiben. Man kriegt die Männer aus der Zeche, aber nicht die Zeche aus den Männern.