Kapitel 3
Industriekultur, Stolz und ein bisschen Folklore: Was vom Bergbau bleibt
Rund 200 Jahre lang hat der Steinkohlenbergbau eine ganze Region geprägt. Die Städte im Kohlenrevier Ruhr hat die Industrie so eng miteinander verbunden, dass sie fließend ineinander übergehen. Wer den Menschen aus dem Pott nachsagt, sie seien offen und ehrlich, loyal und hilfsbereit, meint damit eigentlich die Kumpel vom Pütt.
Die Fördergerüste, die großen Kokereien und Industrieanlagen haben das Erscheinungsbild des Ruhrgebiets lange ebenso nachhaltig geprägt wie die kleinen Zechensiedlungen. Ein anderes Panorama verschafft einem allerdings der Aufstieg auf eine Halde, von denen es quasi an jeder Ecke eine gibt, mehr als 250 insgesamt. Das ehemalige Steinkohlenrevier zeigt sich von hier grüner als erwartet. Die Sonne verstaubt hier schon länger nicht mehr.
Deutlich wird von hier oben auch: Viele Über-Tage-Bauten der Bergwerke sind verschwunden. Viele Fördergerüste wurden abgerissen, ehemalige Zechenstandorte umgewandelt in Gewerbe- oder Wohngebiete. In andere Industrieruinen ist Neues eingezogen. Der Gasometer in Oberhausen etwa beherbergt anstelle von Kokereigas längst innovative Ausstellungen.
Auf dem einstigen Gelände der Zeche Osterfeld entstand das Einkaufszentrum “Centro”. Wenige Kilometer weiter wird ein Schacht der Zeche Concordia noch zur Wasserhaltung genutzt, parallel gibt es in den verbliebenen Gebäuden ein Theater, Büros und Ateliers, im Keller gibt es Proberäume für Bands.
Im Malakoffturm von Prosper 2 in Bottrop werden Kletterkurse angeboten, in der Waschkaue daneben findet sich das Grusellabyrinth NRW. Nur einige Beispiele für die Umnutzung einstiger Industriegebäude, die oft Raum für Kreative bieten. Einmal im Jahr feiert das Ruhrgebiet diese Quartiere, mit der Extraschicht – der Nacht der Industriekultur.
Auch die Halden selbst sind ein Zeugnis des Bergbaus. Viele dieser gigantischen Abfallhaufen des Bergbaus aus Erde und Geröll wurden renaturiert und mit Kunstwerken verziert. Heute ziehen sie Jogger, Mountainbiker, Spaziergänger, Familien mit Kindern und Hobbyfotografen an. Naherholung statt Schwerindustrie.
Als eine der ersten wurde die Halde Rheinpreußen in Moers begrünt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. 1990 war in der gleichnamigen Zeche Schluss. Geblieben sind ein Förderturm und eben die Halde. Seit 2007 weist eine riesige Grubenlampe (das „Geleucht“) den Besuchern den Weg zum Gipfel – und erinnert als Landmarke an die Bergbauhistorie der Stadt. Halde und Geleucht bringen es zusammen auf 120 Meter Höhe – laut Ruhr Tourismus das “größte bergbauliche Kunstwerk der Welt”.
Nicht weniger eindrucksvoll ist die ebenfalls begehbare Großskulptur Tetraeder in Bottrop. Gleich nebenan entstand, ebenso auf Abraum der Zeche Prosper-Haniel, eine Skihalle samt Sommerrodelbahn. Zwischen den beiden Halden steht die noch einzig aktive Bergwerkskokerei im Ruhrgebiet. In unregelmäßigen Abständen schießen dicke weiße Wolken aus dem Löschturm. Wasserdampf. Ruhrpottromantik ohne Gesundheitsgefahr.
Erinnerungskultur trifft Innovation
In gleicher Blickrichtung liegt südöstlich vom Tetraeder die Skyline von Essen, ein bisschen weiter von da Richtung Norden ist der Schacht XII der Zeche Zollverein zu erspähen, die 1986 schloss – als letzte von einst 290 Zechen im Stadtgebiet. Heute ist die Zeche Zollverein im Stadtteil Katernberg ein Kultur-, Veranstaltungs- und damit auch wieder Wirtschaftsstandort. Das rote Doppelbock-Fördergerüst ist in stilisierter Form Wahrzeichen der gesamten Region. Spricht man über Strukturwandel, lohnt sich ein genauer Blick hierhin.
Lena Frohne ist eine von vielen Gästeführerinnen auf Zollverein. Die 35-Jährige führt jedes Jahr Tausende Besucher durch die erhaltenen Anlagen. Dass die alte Zeche so beliebt ist, führt sie auf ein bisschen Glück zurück, aber auch auf eine gute Entwicklung der Fläche. „In den 80ern heißt es, die Fördergerüste sind die Kathedralen des Ruhrgebiets. Zollverein wird kurz vor der Schließung Denkmal und ist bei den Menschen im Bewusstsein einfach verankert.”
2017 kamen 1,5 Millionen Menschen aus aller Welt auf das Gelände, das als Unesco-Weltkulturerbe ausgezeichnet wurde. “Manchmal haben wir gerade im Sommer Gäste, die mit Kreuzfahrtschiffen unterwegs sind. Die kommen aus den USA, aus Australien, aus Indien, schippern über den Rhein, halten dann in Xanten oder in Duisburg und kommen mit Bussen hierhin. Die sind immer mit großer Begeisterung und großem Interesse hier.“
Wer als Besucher auf das ehemalige Zechengelände kommt, kann aber nicht nur Architektur und Industriegeschichte anschauen und erleben. Im Sommer kann man hier schwimmen, im Winter Eislaufen. Es gibt diverse Museen, der Fachbereich Design der Folkwang Universität der Künste hat hier seinen neuen Campus. Ateliers bieten Raum für Ideen, die ehemalige Sauger- und Kompressorenhalle bietet Platz für Events mit bis zu 2500 Menschen.
Doch die Entwicklung ist mühsam. Mehr als 30 Jahre nach Schließung der Zeche Zollverein sind selbst an diesem Vorzeige-Standort nur 1500 Arbeitsplätze entstanden; der Bergbau hatte hier 8000 Menschen beschäftigt. In Essen wie auch im Ruhrgebiet insgesamt gibt es zahlreiche Probleme und Beispiele für gescheiterte Versuche des Strukturwandels. Doch auf Zollverein betonen sie das Potenzial der Region mit der “höchsten Universitätsdichte in Deutschland”. Als nächstes soll deshalb ein Gründerzentrum entstehen.
Der Bergbau hat Aufgaben für die Ewigkeit hinterlassen
Ein vor Kurzem abgeschlossenes Projekt ist ein Neubau am südwestlichen Rand der Kokerei Zollverein. Hier befindet sich jetzt die RAG Stiftung und die RAG Aktiengesellschaft. Auch wenn im Dezember die letzten Zechen dichtgemacht werden, gibt es noch genug Aufgaben, die die Mitarbeiter der Ruhrkohle in Zukunft beschäftigen.
International ist Steinkohle gefragt wie nie. Nur weil in Deutschland keine mehr gefördert wird, heißt das nicht, dass sie hier nicht mehr gebraucht wird. 2016 wurden weltweit mehr als sieben Milliarden Tonnen gefördert – mehr als die Hälfte davon in China. Länder wie die USA, Indien, Australien und Indonesien setzen auf den Steinkohlenbergbau. Die Maschinen aus den beiden letzten deutschen Zechen sind noch gefragt. Besonders begehrt ist das insgesamt sieben Kilometer lange Förderband aus Prosper-Haniel.
Gefragt ist auch das deutsche Wissen um das, was nach dem Bergbau kommt. Wenn man kilometerlange Höhlensysteme unter der Erde anlegt und Millionen Tonnen Material entnimmt, bleibt das nicht ohne Folgen für die Umwelt und die betroffenen Bereiche über Tage, wo sich plötzlich Löcher auftun können. Die RAG muss sowohl diese “Bergschäden” regulieren als auch die sogenannten “Ewigkeitsaufgaben” bewältigen.
Vor allem muss der Konzern verhindern, dass sich das Ruhrgebiet in eine Seenlandschaft verwandelt. Durch den Bergbau sackt vielerorts die Erdoberfläche ab. Einige Bäche können nicht mehr abfließen, die entstehenden Polderflächen muss die RAG entwässern. Außerdem muss sie sich um das Grubenwasser kümmern. Das darf nicht aus alten in die noch aktiven Bergwerke laufen. Und vor allem darf es nicht mit dem Grundwasser vermischen. Deshalb wird es stetig abgepumpt und gereinigt. 2000 Messstellen überwachen die Wasserqualität.
Eine weitere Aufgabe: Was passiert mit den ehemaligen Bergbauflächen? Nicht alle können schließlich zu Kreativquartieren umfunktioniert werden. Manche werden schlicht abgerissen: auf dem Gelände der Schachtanlage Prosper III in Bottrop sollen Wohnhäuser entstehen.
Die Bergbaugeschichte weiter tragen
Als 1984 Herbert Grönemeyer in „Bochum“ Kohle und Stahl besingt, hat die letzte Zeche in der Stadt schon vor mehr als zehn Jahren dichtgemacht. Die wenigen erhaltenen Fördergerüste stehen heute für Industriegeschichte und spenden den Menschen im Pott ein bisschen städteübergreifende Identität. In den örtlichen Geschäften gibt es Quietscheentchen zu kaufen, die eine Zeche im Flügel halten. Das traditionsreiche “Steigerlied” singen zehntausende Fußballfans zur Einstimmung auf jedes Heimspiel des FC Schalke 04. T-Shirts mit Schlägel und Eisen gibt es zuhauf, ebenso Tassen, Feuerzeuge und Magneten.
Tiefer schürfen die Grubenhelden aus Gladbeck in der Bergmannsgeschichte. Das Start-up hat seine Geschäftsräume stilecht in einer Zechensiedlung nahe der Halde Ellinghorst. Wer hereinkommt, dem schmettert Gründer Matthias Bohm ein fröhliches „Glückauf!“ entgegen. Man duzt sich hier, ist unter Tage auch so. Hier hängen Helme von der Decke, als Deko dienen Grubenlampen und Sicherheitsschuhe, ein großes Stück Kohle aus Prosper-Haniel wird auf dem Tresen präsentiert. Die Grubenhelden arbeiten originale Bergmannskleidung in ihre T-Shirts, Hoodies und Jacken ein, als stille “Zeitzeugen”, wie Bohm sagt. Die tragen dann Namen, die auf Geschichten aus dem Bergbau verweisen oder auf stillgelegte Zechen.
Das Steigerlied ist mit mindestens einer Strophe in jedem Stück vertreten, der Reißverschluss ist einer Grubenmarke nachempfunden. Das kommt bei den ehemaligen Kumpeln gut an, sagt der Gladbecker. „Wenn wir alte Bergleute hier haben, die ihre alten Klamotten sehen bei uns, dann sind das ganz tolle Momente. Ein zwei Meter großer Bergmann kommt hier in den Laden, steht hier, nimmt mich in den Arm und fängt an zu weinen und bedankt sich, dass wir hier die Geschichte erzählen.“ Auf die Vergangenheit ist Matthias stolz. „Ohne das Ruhrgebiet wären wir heute in Deutschland und in Europa nicht da, wo wir sind. Wir wollen den Leuten ein bisschen mehr Respekt zollen dafür, dass sie hier jahrelang malocht haben. Wir wollen ihre Geschichte weitertragen.“
Kundschaft findet Bohm nicht nur im Ruhrgebiet und den anderen ehemaligen Kohlenbergbauregionen, sondern in ganz Deutschland. „Nicht, weil sie irgendeinen Bezug zum Bergbau haben, sondern weil sie die Geschichte stark finden“, sagt er. „Vereinzelt kommen auch internationale Bestellungen rein. Wir haben auch in die USA verschickt. Das ist spannend, weil die teilweise die Geschichte dahinter gar nicht kennen, sondern nur die Klamotten stylish finden. Und wenn wir denen das dann erzählen, fassen die das gar nicht.“
Am 21. Dezember wird die letzte Schicht in einem deutschen Steinkohlebergwerk gefahren. Zur Verabschiedung haben sich hohe Gäste aus der Politik angekündigt. Ungleich wichtiger ist Bergleuten wie Holger Kenda, dass man sich an sie erinnert. An Matthias Bohm soll es nicht scheitern. Im Februar 2019 will der Gladbecker Modemacher die Geschichte des Bergbaus im Ruhrgebiet der ganzen Welt erzählen, bei der New York Fashion Week. „Wie könnte ich meinem Uropa und allen anderen Kumpeln für die jahrzehntelange Maloche besser Danke sagen?”