Die Welt mag Lothar Hörning am liebsten bunt. So wie im Karneval. Er liebt die Vielfalt, die Fröhlichkeit, die Unbeschwertheit der Fünften Jahreszeit. Sogar Karnevalsprinz war er in Düsseldorf und hat den schwul-lesbischen Karnevalsverein KG Regenbogen mitbegründet. „Unglücklich war ich noch nie in meinem Leben“, sagt der 55-Jährige. Dabei hat er eine bewegte Geschichte zu erzählen.
Vor Düsseldorf, vor dem Karneval, vor dem Bekenntnis zur Homosexualität, führt Lothar Hörning ein ganz anderes Leben. In Bocholt lebt der Angestellte im Außendienst mit seiner Frau und den zwei Kindern, zwei Söhnen, 7 und 13. Er ist 35 Jahre alt, als er sich entscheidet, zu gehen, und sich als homosexuell outet. Es ist der radikalste Schritt, den Hörning je gemacht hat. „Ich bin nicht von heute auf morgen bewusst schwul geworden“, sagt er. Vielmehr war es ein Prozess, dessen Ausgangspunkt eine Begegnung auf einer Party ist, bei der Hörning merkt, dass er mehr als Freundschaft fühlt. Das Gefühl, anders zu empfinden, das gleiche Geschlecht anziehend zu finden – es begleitet ihn ab diesem Zeitpunkt sieben Jahre lang. „Natürlich war es in dieser Zeit nicht immer da, das Gefühl kam in Wellen. Aber es war da.“ Irgendwann ist sich Hörning dann sicher. Und dann geht alles ganz schnell, verändert er von heute auf morgen sein Leben. Outing, Scheidung, Wegzug.
Vieles wird für Hörning danach einfacher, vieles aber auch nicht, der Umgang mit den Kindern und dem Freundeskreis beispielsweise: „Manche haben mich nicht verstanden. Aber solche Freunde gehen dann. Die, die es verstehen, bleiben.“ Um seinen Kindern das Leben zwischen nun zwei Elternhäusern zu erleichtern, geht er ungewöhnliche Wege, führt zum Beispiel den „Dritten Weihnachtstag“ ein. „Meine Kinder wollten ihre gewohnten Weihnachtsrituale nicht verlieren, wollten bei der Mutter und bei den Großeltern feiern und nicht plötzlich zu diesen Zeiten zu mir kommen“, sagt er. Anfangs verletzt ihn das, dann macht er den 27. Dezember zum Weihnachtstag bei Papa, geht die Geschenke mit den Kindern in den wiedergeöffneten Geschäften einkaufen, ganz entspannt. Das funktioniert. Genauso wie der Umzug. „Es gab zur Zeit meines Outings einen anderen Familienvater in Bocholt, der sich auch geoutet hat. So etwas spricht sich natürlich rum, also haben wir uns irgendwann getroffen und unterhalten“, sagt Hörning. Dieser rät ihm, wegzuziehen. Das sei für alle Beteiligten das Beste. Klingt nach Flucht. Ist es auch irgendwie, meint Hörning, aber man vermeide eben Konflikte und Getuschel. „Für mich war es die richtige Entscheidung und ich würde das jedem anderen auch raten.“
Heute ist Düsseldorf der Lebensmittelpunkt des 55-Jährigen. Der 27. Dezember ist längst kein Weihnachtstag mehr. Seine Kinder sind erwachsen, reisen durch die ganze Welt, studieren. Sie kommen jetzt an Weihnachten. Oder wann immer es die Zeit zulässt. Hörning hat ein gutes Verhältnis zu ihnen, darauf ist er sehr stolz, das merkt man, wenn er über sie redet. Über die Jahre ist der Friede gekommen, nicht der Friede Hörnings, sondern der anderen mit ihm. Er selbst bereut nichts – weder die eine, noch die andere Vergangenheit. „Als Familienvater war ich auch sehr glücklich. Ich fand es toll, Kinder zu bekommen, ich schätze auch Frauen sehr“, sagt er. Andererseits ist er sich sicher: Einen Weg zurück gab es nie und wird es auch nicht geben.
Weil er zu dem Zeitpunkt, als er sich endgültig sicher war, schwul zu sein, sofort handelte, habe er gar nicht die Gelegenheit gehabt, sich selbst zu belügen. Deshalb ist Hörning mit sich im Reinen. Er hat der Lüge in seinem Leben keine Chance gegeben. Die Geschichte vom späten Outing und der Lebenslüge – bei Lothar Hörning bestätigt sie sich nicht.
Wie müssen sich Journalisten in Zeiten, in denen es salonfähig wird, "Lügenpresse" zu brüllen, positionieren? Ein Gespräch mit RP-Chefredakteur Michael Bröcker.
Frauke Petry sollte bloß nicht auf die Idee kommen, bei ihm anzurufen. Wirklich, das sollte sie besser lassen. Karsten Göbel hätte kein offenes Ohr für sie. Peer Steinbrück, ja. Die Agenda 2010, ja. Aber die AfD? Niemals. Never. Für die selbsternannte Alternative für Deutschland würde Göbel, der Geschäftsführer der Werbeagentur Super an der Spree, im Leben keinen Wahlkampf machen. „Ich arbeite nicht mit Arschgeigen zusammen“, sagt Göbel.
Als Karsten Göbel vor mehr als 20 Jahren seine ersten Schritte in der Kommunikationsbranche gemacht hat, kam er erstmals mit politischem Wahlkampf in Berührung. Die Agentur, in der Göbel damals gearbeitet hat, stellte den Mitarbeitern frei, sich an der Kampagne für die schleswig-holsteinische CDU zu beteiligen. Wer sich damit halbwegs identifizieren konnte, hat mitgemacht, wer nicht, hat es gelassen. Göbel hat daraus seine Lehre gezogen. Er wirbt nur für Dinge, Parteien, Menschen, für die er ein Mindestmaß an Empathie empfindet. Die AfD gehört nicht dazu.
Der Bundestagswahlkampf 2017 zeigt bereits zu dieser frühen Phase, dass er nicht angenehm zu werden gedenkt. Falschnachrichten, alternative Fakten, Hackerangriffe – die Politiker dieser Tage müssen hart gesotten sein. Für den Werber Göbel sind es gleichwohl spannende Zeiten, er erfreut sich geradewegs an dem Duell Schulz gegen Merkel. Denn: Je unübersichtlicher es für das Publikum zu werden droht, desto klarer die Botschaften der Werber. Werbung wandelt seit jeher auf dem schmalen Grat zur Täuschung. Der „luftig-leichte“ Joghurt mit 17 Prozent Fett und viel zu viel Zucker. Das Fertiggericht mit ausschließlich „natürlichen Zutaten“. Der Politiker, der Wort hält. Das Betonen von positiven Eigenschaften, das Ignorieren der negativen, beides gehört wie selbstverständlich zu Botschaften in der Werbung. Karsten Göbel aber sagt: „Auf dem Feld der Halbwahrheiten arbeiten wir nicht.“ Nichts als die Wahrheit, also.
Göbel ist Experte für politische Werbung, seit Jahren arbeitet er für verschiedene politische Parteien, für Ministerien, für Initiativen. Er ist ein politischer Mensch, er will über Politik sprechen. Deswegen sagt er: „Ich glaube nicht, dass Merkel die Wahl gewinnen kann, Stand heute.“ Sie müsste eine neue Geschichte erzählen, aber die hat sie nicht. „Wenn sie schwanger würde und drei Kinder bekommt, dann wäre das eine Nachricht“, sagt Göbel. Aber das wird nicht passieren. „Merkel ist auserzählt.“ Es reiche nicht mehr zu sagen: „Sie kennen mich.“
Kommunikation lebt von der Verdichtung, es geht um die Zuspitzung von Positionen, sagt Karsten Göbel. Und wer zuspitzt, wird ungenauer, schwammiger, vielleicht doch etwas halbwahr. In Österreich, in den USA, in Großbritannien und jetzt auch in den Niederlanden hat es zuletzt antagonistische Positionen in den Wahlkämpfen gegeben. Und die Wahl bestand politisch nicht mehr zwischen links und rechts, sagt Göbel, sondern zwischen liberal und antiliberal. Freiheit gegen Unfreiheit. Autorität gegen Demokratie. Und in Deutschland? Der Werber glaubt nicht, dass Merkel ins antiliberale Segment abdriftet. „Das würde sie ihre letzte Glaubwürdigkeit kosten“, sagt Göbel. Und er glaubt auch nicht, dass SPD-Kandidat Martin Schulz die Gegenposition dazu einnehmen würde. „Merkel und Schulz liegen im gleichen Quadranten.“ Martin Schulz, der Europa-Dino, reüssiert deswegen, weil er als Projektionsfläche dient, als „Interface“, wie Karsten Göbel sagt. Die Menschen verbinden mit ihm eine gewisse Kompetenz, wissen aber nicht viel Konkretes über ihn. „So können sie ihre Hoffnungen in ihn stecken“, meint Göbel.
Die „maximale Nervosität“ der CDU amüsiert Karsten Göbel. Er freut sich diebisch darauf, wie die Geschichte in Berlin in diesem September geschrieben wird. Frauke Petry wird da wohl eine Rolle spielen, auch wenn es Karsten Göbel nicht gefällt. Die Agenda 2010, für die er lange geworben hat, ist auch wieder auf dem Tableau der Wahlkampfthemen angelangt. Göbel fand sie schon gut, als noch Tausende montags auf dem Alex dagegen demonstrierten. Inzwischen geben ihm Ökonomen recht.
Eines Tages, er muss so etwa 15 Jahre alt sein, fasst Martin Sell all seinen Mut zusammen. Er hat sich in seine Klassenkameradin verknallt. Und um ihr seine Gefühle zu gestehen, schreibt Sell einen Liebesbrief. Herzklopfen. Abwarten. Die Mitschülerin reagiert. Aber anders, als es sich Sell vorgestellt hat: Sein Liebesbrief geht nun in der Klasse herum, einer nach dem anderen liest die hoffnungsvollen Zeilen des Schülers, um sich anschließend darüber zu amüsieren. Wer jemals als Teenager einen Liebesbrief geschrieben hat, weiß, wie grausam das ist.
Im Falle von Martin Sell ist es aber besonders grausam: Der Wuppertaler ist ein funktionaler Analphabet. Lesen und Schreiben fallen ihm schwer. Und seine Mitschüler lachen weniger über den Inhalt seines Briefes, sondern vielmehr über die Fehler, die Sell darin gemacht hat. Um Momente wie diese künftig zu vermeiden, schafft sich Martin Sell einen Schutzpanzer an, einen Schutzpanzer, den er viele Jahre gar nicht, später selten und inzwischen immer häufiger ablegt: die Lüge.
„Ich habe oft, sehr oft, in meinem Leben gelogen. Ich weiß gar nicht, wie oft“, sagt Sell heute. 42 Jahre ist er jetzt alt und lebt noch immer in Wuppertal. Die Bushaltestelle sei so ein typisches Beispiel für seine Lügen im Alltag, sagt er. „Wenn jemand von mir wissen will, was auf dem Fahrplan steht, sage ich zum Beispiel oft, ich hätte keine Brille dabei.“ Wenn es darum geht, auf dem Amt Formulare auszufüllen, schiebt er eine Zeit lang immer eine Sehnenscheidenentzündung vor, erklärt, deshalb gerade nicht schreiben zu können, und nimmt die Formulare mit nach Hause. Hilfe bekommt er von seinen engsten Freunden, jenen wenigen, die über seine Situation Bescheid wissen. Aus Scham habe er gelogen, immer wieder. „Ich binde ja nicht jedem Menschen auf der Straße direkt auf die Nase, dass ich ein Analphabet bin“, sagt Sell.
„Mein Adoptivvater ist nicht so gut mit meinen Problemen zurechtgekommen“
Dass er Probleme mit Buchstaben und Wörtern hat, macht sich schon in der ersten Klasse bemerkbar. Damals lebt Sell mit seinen Adoptiveltern noch im Westerwald. Bei Diktaten kommt er nicht mit, macht Fehler um Fehler. „Am Anfang hat man gedacht, dass das Faulheit ist“, sagt er. Dann jedoch habe er mehr und mehr geübt, sich richtig angestrengt – um am Ende dann doch wieder ein mit Rotstift vollbemaltes Klassenarbeitsheft zurückzubekommen. Sell muss die erste Klasse wiederholen. Seine Lehrer diagnostizieren schließlich Legasthenie, gemeinsam mit seinen Eltern versucht er, aufzuholen. Nach dem Umzug nach Wuppertal besucht Sell eine Waldorfförderschule, schlägt sich dort mehr schlecht als recht durch. Hinzukommen Konflikte mit den Eltern: „Mein Adoptivvater ist nicht so gut mit meinen Problemen zurechtgekommen“, sagt er. Zu seinen leiblichen Eltern hat Martin Sell keinen Kontakt. In ihnen sieht der gebürtige Berliner jedoch den Ursprung für seinen Analphabetismus: Beide waren Alkoholiker, der Vater hatte Legasthenie.
Funktionaler Analphabetismus bedeutet aber nicht, dass Sell gar nicht lesen und schreiben kann. Seine Fähigkeiten sind weit weniger entwickelt als bei den meisten anderen Menschen: Kurze Sätze oder einzelne Buchstaben bereiten ihm wenig Schwierigkeiten, langen Sätzen kann er aber nicht folgen. „Wenn ich etwas lese, dann ist das für mich viel anstrengender als für die anderen. Es dauert länger, ich muss mich sehr konzentrieren“, sagt er. Wenn er dann unter Druck gerate, komme er kaum voran. 7,5 Millionen Menschen in Deutschland sind funktionale Analphabeten, schätzen Experten.
Nach der Schule absolviert Martin Sell zweimal ein Programm, bei dem junge Erwachsene in verschiedene Berufe hineinschnuppern können, probiert sich dabei im Schreinerhandwerk. In der Praxis ist er geschickt, die Theorie macht ihm jedoch zu schaffen. Weil Sell außerdem an Dyskalkulie, einer Zahlen- und Rechenschwäche leidet, hat er Schwierigkeiten, Maße zu nehmen. „Mein Chef hat dann immer gesagt, wenn es um das Handwerk geht, könne er mich einstellen. Aber mit meiner Rechenschwäche könne man mich eben zu keinem Kunden schicken.“ Aus der Traum. Sell hangelt sich fortan vom einen Gelegenheitsjob zum nächsten, ist immer mal wieder arbeitslos.
„Du musst Dir das so vorstellen: Wenn ich lesen und schreiben lernen möchte, ist das so, als wenn Du innerhalb eines Jahres perfekt Japanisch lesen und schreiben lernen wolltest“
Mit Mitte 30 beschließt er dann, dass Schluss sein muss. Mit den Problemen, mit der Arbeitslosigkeit, mit den Lügen. Bei der Volkshochschule meldet er sich zum Alphabetisierungs-Kurs an, absolviert ihn einmal, zweimal, dreimal, immer wieder. Seine Lese- und Schreibfähigkeiten verbessert er von Mal zu Mal. Er schreibt E-Mails, bestellt im Internet, versucht, den Führerschein zu machen. „Du musst Dir das so vorstellen: Wenn ich lesen und schreiben lernen möchte, ist das so, als wenn Du innerhalb eines Jahres perfekt Japanisch lesen und schreiben lernen wolltest“, sagt er. Im Unterricht ist er einer der Ältesten. Trotzdem tut es gut, andere Menschen zu treffen, denen es so geht wie ihm. Sell gibt nicht auf. Und er lügt nicht mehr so viel, auf dem Amt schon gar nicht, „denn, was ich nicht wusste: Wenn ich nicht lesen und schreiben kann, muss man mir dort helfen“.
Im Sommer 2016 beginnt Martin Sell schließlich einen neuen Lebensabschnitt, fängt im Lager eines Werkzeug-Fachhandels an. Seinem Chef sagt er von Anfang an die Wahrheit, berichtet von den Schreibproblemen und der Dyskalkulie. Nach der Probezeit wird Sell übernommen. „Weil ich so ehrlich war und mich angestrengt habe, hat mein Chef gesagt.“ Dabei ist der Job durchaus eine Herausforderung für den 42-Jährigen: Um Bestellungen für die Kunden zusammenzustellen, muss er die Waren abzählen, muss sich merken, wer was angefordert hat. Manchmal macht er dabei Fehler. Dann helfen Kollegen – auch wenn nicht alle von Sells Handicap wissen. Noch immer klärt er nicht gleich jeden darüber auf. Denn die Reaktionen sind nicht immer positiv. Schon einmal hat er mit einer Zeitung über sein Leben als funktionaler Analphabet gesprochen und wurde danach von einem Kunden wiedererkannt, der fragte, warum das denn nötig sei, warum er das der Öffentlichkeit mitteilen müsse.
Es müsse sein, sagt Sell, weil er anderen Menschen Mut machen möchte. Weil er zeigen will, dass das Leben ohne den Schutzschild Lüge und ohne das Versteckspiel vor der Wahrheit möglich ist. Er will zeigen, dass es sich lohnt, zu kämpfen – auch wenn es für Menschen wie ihn vielleicht schwieriger ist. Zwei Jahre hängt sein Gehirn seinem tatsächlichen Alter nach, sagt Martin Sell. Das nennt man wohl eine Behinderung. Unterhält man sich mit Sell, ist davon allerdings nichts zu spüren, im Gegenteil: Während andere Menschen in seinem Alter vielleicht gelernt haben, die Quantenphysik zu erforschen oder Dostojewski zu rezitieren, hat Martin Sell gelernt, auf die Zwischentöne zu achten, kann etwa allein an der Stimme seines Gegenübers schnell dessen wahren Gemütszustand erkennen, hat einen Blick für die Details.
Wenn Martin Sell ehrlich zu sich selbst ist, ist er aber auch oft wütend darüber, dass er solche Schwierigkeiten hat. „Nach der Schule wäre ich zum Beispiel sehr gerne einfach mal durch die Welt gereist. Aber in einem Land mit anderer Sprache kann ich mich gar nicht zurechtfinden.“ Straßenschilder lesen, Spanisch sprechen, Karten studieren – das alles überfordere. Selbst in Berlin, seiner Geburtsstadt, habe er sich kaum orientieren können. „Dort sind die Straßenschilder in einer Schrift geschrieben, die ich fast gar nicht lesen kann“, sagt er. Also hat Martin Sell den Großteil seines Lebens in Wuppertal verbracht. Aber er ist zuversichtlich, „schließlich bin ich ja noch nicht so alt“, sagt er und lacht. Bereisen würde er die Welt dann am liebsten mit Frau und Kind. „Da bin ich auch auf der Suche. Eine Frau, mit der man sein Leben teilt – das wäre schon was.“ Dann hätte Martin Sell auch jemanden, dem er wieder Liebesbriefe schreiben kann. Fehlerquote? Egal.
„Lügen“ ist ein hässliches Wort, findet Anika Wurth. „Ich sage immer lieber flunkern, lügen klingt gleich so schlimm.“ Die 28-Jährige studiert Sozialwissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität. Ab und an flunkert sie. Wenn sie zum Beispiel ihrer Mutter auf die besorgte SMS am Abend antwortet, dass sie bereits zu Hause ist, damit sich die Mutter keine Sorgen macht. Das sei so ein typischer Fall von Flunkerei, sagt Wurth. Aber das sei schon in Ordnung, das sei schließlich eine gute Lüge, weil sie aus guter Absicht getätigt wurde.
Gute Lügen, schlechte Lügen: Wurth unterscheidet da sehr klar. „Ich habe zum Beispiel auch lange in einem Krankenhaus gearbeitet und habe todkranke Menschen betreut. Da war es stets ein Thema, wie viel Wahrheit ein Patient ertragen kann, wenn es um die verbleibende Lebenszeit geht.“ Einige Menschen brächen zusammen, wenn sie erführen, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt. Sie verlören dann jeden Lebensmut, ließen sich vollkommen hängen. „Da habe ich mich immer gefragt, ob man wirklich die volle Wahrheit sagen sollte. Sollte man nicht statt eines konkreten Zeitpunktes nur einen ungefähren Zeitraum nennen? Dann kann man die Zeit vielleicht mehr genießen“, sagt die Studentin. Am Ende seien die Mediziner immer vollends ehrlich gewesen, so Wurth. Eine andere Wahl hatten sie schließlich auch nicht. Die Skepsis aber bleibt.
Sie bleibt auch deshalb, weil Wurth selbst schon einmal Opfer der Lüge geworden ist. „Als mein Opa kürzlich gestorben ist, habe ich erfahren, dass er gar nicht mein echter Opa war.“ Das habe sie tief getroffen, habe sie ins Grübeln gebracht. Was ist im Leben wahr, was gelogen? Wann sind Lügen nun gut und wann nicht? Eine Antwort darauf ist nicht immer einfach. Die große, schwere Lüge ist nicht einfach. Das Flunkern dagegen schon.
Flora Treiber sitzt im Intercity-Express nach Hamburg und liest eine Biografie von Pina Bausch. Später wird sie den Zug verlassen und die Binnenalster im hanseatischen Abendlicht fotografieren. In dem Hotel, in dem sie unterkommt, es nennt sich „Vier Jahreszeiten“, gibt es an der Bar Cosmopolitan, das Lied „Moon River“ läuft, und man darf rauchen. Flora Treiber fühlt sich pudelwohl.
Man wird sich das Leben der Flora Treiber als ein uneingeschränkt glückseliges vorstellen müssen. Der Milchschaum in ihrer Kaffeetasse wackelt nicht, er sitzt in Herzform, und zwar perfekt, jedes Mal aufs Neue. Mit ihren 25 Jahren ist die Frau aus Radevormwald im Bergischen Land ganz schön geschäftig und weltmännisch unterwegs. Hamburg, Berlin, New York, Wuppertal. Es braucht nicht viel, um all das herauszufinden, nur einen Account bei Instagram.
Flora Treiber ist Mode-Bloggerin und Journalistin. Auf ihrem Blog rothaariges.de präsentiert sie den neuesten Chic, ihre aktuelle Lektüre oder einen Hinweis auf ein angesagtes Café. Die Bilder, die sie dort und bei Instagram von sich zeigt, sehen fantastisch aus. Die Kontraste stimmen, das Licht ohnehin, ihre Klamotten sitzen präzise, und sie selbst, sie sieht nie traurig aus. Aber die Hose kneift doch bei jedem Menschen mal, nicht?
Ihre 3946 Follower bei Instagram und die 25.000 Menschen, die jeden Monat ihren Blog klicken, sehen ein Leben, das sich viele wünschen. Aber Flora Treiber sagt: „Es ist bloß ein winziger Teil meines Lebens. Der Teil, der optisch ansprechend ist.“
Das ist auf der einen Seite banal. Wer glaubt denn schon, dass jemand die Schatten- und Schokoladenseiten des Lebens ungefiltert und ungehemmt ins Netz stellt? Das ist andererseits das Gegenteil von banal. Denn wer sich durch die vielen tausend Profile bei dem Fotodienst von Facebook klickt, der kann traurig werden, versinken, ja, zerbrechen an der eigenen Unvollkommenheit.
Flora Treiber weiß das. Aber sie nutzt ihren Account rothaariges zur Promotion ihres Blogs. Das alles ist authentisch, aber eben nur ein Teil der Wahrheit. Hin und wieder bekommt sie von Firmen Produkte zugeschickt, mal unaufgefordert, mal auf Nachfrage. Wenn Flora Treiber die Produkte gut findet, stellt sie sie auf ihrem Blog vor. Mit einem kleinen Hinweis auf „Werbung“, den gewiss nicht jeder sieht, wie sie sagt.
Ihre Blogfotos hat sie stets vorbereitet auf dem Handy liegen. Die veröffentlicht sie dann, wenn sie möchte. Das ist nicht live oder unmittelbar, sondern verzögert. Selbst wenn es ihr gerade schlecht geht, könnte es so aussehen, als lächle sie mit ihrem alten Mantel in die Sonne. Für Fotos vom Frühstück, den Kaffee mit dem Herzschaum, benötigt sie etwa fünf Minuten. Das Licht, die Kontraste abstimmen, abdrücken.
Flora Treiber weiß, dass sie das Bildnis ihrer Realität mittels Instagram selbst formt. Aber sie weiß auch, dass sie die Realität nicht verändern kann. Sie erzählt, dass es Programme gibt, mit denen man die Beine auf Fotos länger, und die Zähne heller machen kann. Diese Programme besitzt sie nicht.
Es ist zwar nur ein kleiner Ausschnitt, den der Nutzer von ihrem Leben kennenlernt, aber es ist ein Ausschnitt, der wahr ist, der stimmt. Es gibt dieses Teilleben, und es gibt andere Teilleben. Die findet man aber nicht auf Instagram.
Ein Mann der Kirche darf nicht lügen. Für ihn gilt das Diktat der Wahrheit. „Die Kirchen haben den Anspruch für Wahrhaftigkeit zu stehen“, sagt Thomas Brödenfeld. Der Lügner hat im christlichen Glauben nun wirklich kein gutes Ansehen. Im fünften Kapitel der Bergpredigt im Evangelium nach Matthäus heißt es: „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Alles andere stammt vom Bösen.“ Das achte Gebot lautet: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“
Also, Thomas Brödenfeld, haben Sie noch nie gelogen?
Nein, sagt der Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Wesel. „In 26 Jahren im Kirchendienst habe ich nie wissentlich gelogen.“ Brödenfeld hat schon viele Menschen beerdigt, bei ihrer Trauerfeier letzte Worte gefunden, mit ihnen gerungen, und dabei auch immer ein bisschen mit der Wahrheit. Was sagt er bei der Trauerfeier eines Alkoholikers? Wenn die Familie nicht möchte, dass dies zur Sprache kommt? Dann findet Thomas Brödenfeld eine andere Formulierung. Sagt: „Wir können aus diesem Menschen keinen Heiligen mehr machen.“ Behutsam geht er dann vor, behutsam mit der Wahrheit, behutsam mit der Familie und behutsam mit dem Verstorbenen.
Aber so einfach ist das natürlich trotzdem alles nicht. Noch am Morgen, erzählt er, hat der Superintendent eine mexikanische Studie gefunden. Darin, so sagt er, heißt es, die Lüge sei der Kitt der Gesellschaft, das, was das soziale Leben zusammenhält. Thomas Brödenfeld leuchtet das ein. Er sagt: „Eine gnadenlose Ehrlichkeit kann unbarmherzig sein.“ Die Menschen wüssten, dass ihnen nicht überall nur die Wahrheit begegne. Und noch mehr: „Ich glaube nicht, dass sich ein Leben ohne Lüge durchhalten lässt.“ Es münde in einer Bigotterie, zu behaupten, dass man das schaffen könne.
Das beginnt ja bereits mit dem „Wie geht’s?“, das man sich aus Gefälligkeit auf der Straße zuwirft. Schon der Urheber muss sich fragen, ob er überhaupt eine ehrliche Antwort haben will. Und der Gefragte, muss er jedem Bekannten sein Gefühlsleben offenlegen? Thomas Brödenfeld sagt: „Es ist wahrscheinlich der Mittelweg richtig.“ Schwieriger wird es, wenn man um eine Lüge gebeten wird. So wie es Brödenfeld hin und wieder widerfahren ist.
Wie aber geht die Kirche mit Lügnern um? Der Pfarrer aus Wesel sagt: „Wir sind nicht Richter der Menschen, das ist Gott allein.“ Die Kirche müsse die Menschen mit ihren Sorgen begleiten, sie unterstützen. Denn wer gelogen hat, fühlt sich wahrscheinlich schlecht. Wenn er ein Gewissen hat.
Wer von Thomas Brödenfeld eine E-Mail bekommt, der findet in der Signatur den dritten Absatz von Artikel 3 des Grundgesetzes – es ist das Diskriminierungsverbot. Ein Protest gegen die AfD in Deutschland und Donald Trump in Amerika, schreibt er. Der US-Präsident habe, sagt der Mann der Kirche, die Lüge zur Strategie, die Unwahrheit zur Agenda befördert. „Das kann einen nur anwidern“, sagt Thomas Brödenfeld entschieden. Aber, er hat eine große Hoffnung. „Die Lüge wird sich selber richten“, sagt er, „hoffe ich“.
Es ist ein Dienstagabend, das Telefon klingelt. Thomas, mein guter Kumpel, bittet mich um einen Gefallen, wie er sagt. Wenn seine Frau bei mir anruft, soll ich sagen, dass wir am Wochenende gemeinsam beim Fußball waren. Wir hätten eine Bratwurst gegessen und zwei, drei Biere getrunken und Zeugs gequatscht. Mehr nicht. Es war ein Testspiel, sagt Thomas, weil - so weit hat er gedacht - die Saison gerade eigentlich eine Pause macht.
Ich ringe also mit mir, weiß nicht recht, wie ich auf sein Anliegen reagieren soll. Er ist ein Freund, und Freunden hilft man natürlich. Aber wir waren nie bei diesem Fußballspiel, haben keine Bratwurst gegessen und kein Bier getrunken, ja, wir haben uns nicht einmal gesehen. Thomas war, so viel weiß ich, bei einer anderen Frau. Warum er bei ihr war, ist mir nicht ganz klar. Er weicht der Erklärung verlegen aus. Thomas fleht mich bloß an zu lügen.
Die Lüge, so heißt es jetzt oft, ist auf dem bedingungslosen Vormarsch. Die Wahrheit hingegen verwässert. Ein Mann, der den Klimawandel leugnet, wird Präsident der Vereinigten Staaten. Ein Staat verlässt die Europäische Union, auch weil die Befürworter dieses Schrittes dem Volk vorab Märchen erzählen. Menschen gehen in Deutschland auf die Straße, weil sie glauben, dass ein Kartell aus Politik und Medien die Wahrheit um die wirkliche Wahrheit bereinigt.
Dabei ist die Lüge so alt. Sie ist sogar älter als der Mensch. Die Natur hat uns schon viel häufiger ausgetrickst als wir sie jemals werden austricksen können. Der reizende Schneeschuhhase etwa, der in den Weiten Nordamerikas seine Heimat hat, wechselt im Winter seine Fellfarbe. Er ist dann nicht mehr braun, sondern weiß. So weiß wie der Schnee. Er tarnt sich, versteckt sich, gibt sich eine andere Hülle, um sich selbst zu schützen, vor Räubern und damit schlussendlich dem Tod.
Ein kleiner Test. Welcher dieser Aussagen würden Sie zustimmen: 1. Die Erde ist rund. 2. Die globale Temperatur steigt. 3. Von Flüchtlingen geht eine Gefahr aus. 4. Die EU ist ein Friedensbündnis. 5. Donald Trump ist ein Schneeschuhhase? Denken Sie ruhig nach, das Wenigste ist offensichtlich. Aber was ist wahr, was ist falsch? Woher wissen wir eigentlich, dass die Erde wirklich rund ist?
Die Lösung heißt Vertrauen. Wir vertrauen darauf, dass die Erde rund ist, weil wir keine gegenteiligen Erfahrungen machen. Aber auch, weil es uns jemand sagt, dem wir glauben. Die Erdkundelehrerin, der Großvater, Wikipedia, aber auch Bilder. Aber da gibt es eine Schwierigkeit. Wenn es nämlich ein Feld gibt, in dem der Mensch dem Schneeschuhhasen hoffnungslos unterlegen ist, dann dieses: Der Mensch muss vertrauen.
Der Bäcker mischt kein Gift ins Brötchen, die Busfahrerin ist nicht betrunken, der Nachbar entzündet das Haus nicht. Wir wissen das alles nicht, aber wir hoffen, dass es so ist - und auch so bleibt. Umso unerträglicher wird es, wenn jemand dieses Vertrauen bricht. Wenn der Partner fremdgeht, die Freundin hintergeht, der Bruder einen ins Gesicht lügt. Aber gibt es Situationen, in denen auch der Mensch sein Fell wechseln darf? Also täuschen oder gar lügen?
Das Gegenteil des Vertrauens ist das Misstrauen. Und es wirkt wie Gift. Dieses Gift steckt nicht in Brötchen, sondern in enttäuschten Erwartungen. Und es breitet sich derzeit so rasant aus, dass Polizisten und Journalisten, Feuerwehrleute und Politiker der Lüge bezichtigt werden. Die Lüge ist in die gute Stube der Deutschen, Franzosen, Amerikaner und Briten eingezogen. Weil wir weniger vertrauen, scheint es mehr Lügner zu geben. Lügner aber nennt man nie sich selbst. Der Klebstoff des Vertrauens verliert an Kraft.
Nicht jede Unwahrheit ist indes eine Lüge. Wer wollte den Homosexuellen, der eine Familie mit Frau und Kind gegründet hat, einen Lügner nennen? Oder die Mutter eines Sechsjährigen, die auf die Frage, warum Oma nur noch im Bett liegt, sagt, sie sei sehr müde? Oder den Analphabeten, der vorgibt, die Sprache vollumfassend zu beherrschen? Oder den Werber, der stets das Positive betont?
Damit die Unwahrheit zur Lüge wird, bedarf es einer Art des Vorsatzes. Der Lügner will lügen. Aus Bequemlichkeit, weil es der einfachere Weg ist, der des geringeren Widerstandes, weil er sich selbst schützen will, wie der Schneeschuhhase, und dann aber auch, weil es einfach schlechte Menschen gibt. Jemand fühlt sich belogen, wenn er über den tatsächlichen Sachverhalt getäuscht worden ist. Wenn er vertraut hat und das Vertrauen gebrochen wurde. Die Lüge lässt sich von der Täuschung nicht trennen.
In Bertolt Brechts Drama "Das Leben des Galilei" gerät Galileo Galilei in einen berühmten und uralten Konflikt. Während er widerlegen will, dass nicht die Erde Zentrum des Universums ist, sondern die Sonne, glaubt die Kirche an ihre alte Lehre. Im neunten Bild lässt Brecht seine Figur Galilei eine These für die Ewigkeit sagen: "Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!"
Bertolt Brecht war ein wirklich kluger Mann. Aber wenn wir seine Definition einmal zugrunde legen, dann wäre unser reizender Schneeschuhhase kein Verbrecher, Donald Trump hingegen schon. Und wenn nicht, dann zumindest ein Dummkopf. Beides wärmende, ja, beinahe tröstende Gedanken, aber kein bahnbrechender Fortschritt. Einen Dummkopf einen Dummkopf zu nennen, ist keine besondere Leistung.
Wie viele Dummköpfe, wie viele Verbrecher würde es geben? Wann haben Sie eigentlich das letzte Mal gelogen? Und warum? Wussten Sie es nicht besser oder aber schon und haben es sich bequem eingerichtet, sind dem Konflikt ausgewichen? Mussten Sie das Vertrauen von jemandem brechen? In wohl jedem von uns steckt ein Teil des Schneeschuhhasen, in wohl jedem von uns steckt auch ein Teil Donald Trumps. Mit dem Unterschied, dass wir weder ein niedliches Tier noch US-Präsident sind.
Der Künstler Andreas Gursky verfälscht Fotos. In seinem irrsinnig teuren Werk "Rhein II" hat er einen Passanten und ein Kraftwerk wegretuschiert, beides ist einfach verschwunden, nicht zu sehen. Ein ahnungsloser Betrachter könnte glauben, dass beides indes gar nicht verschwunden ist, sondern nie da war. Würde Brecht Gursky einen Dummkopf nennen oder einen Verbrecher? Wohl nicht. In der Kunst gilt seine Technik als raffiniert. In den hyperventilierenden Medien des Internets aber können verfälschte Fotos über Krieg und Frieden entscheiden. Sind das russische Soldaten auf der Krim? In Polen? In Russland? War das gestern, vor drei Jahren, oder heute?
Thomas' Frau hat mich übrigens nie angerufen. Das war ein großes Glück. Weil ich bis heute nicht weiß, was ich gesagt hätte. Wahrscheinlich hätte ich gesagt, dass wir gemeinsam beim Fußball waren, ein Testspiel. Wir haben Bratwurst gegessen und zwei, drei Biere getrunken, ein bisschen Zeugs gequatscht, mehr nicht. Ich hätte meine Freundschaft gerettet und eine Ehe - zumindest vorerst. Und ich hätte gelogen, obwohl ich die Wahrheit gekannt hätte. Ich weiß nicht, ob das dumm gewesen wäre oder ein Verbrechen. In jedem Falle aber: bequem.
Du sollst nicht lügen. Wenn du dieses Verbot missachtest und dabei erwischt wirst, giltst du als unglaubwürdig. Du kannst Deinen Job, Deine Frau, Deinen Titel verlieren. Dabei ist die Lüge so vielschichtig wie das Leben. Es ist nicht immer einfach zu unterscheiden, ob sie gut oder böse ist. So einfach wie es uns das Lügen-Gebot zu vermitteln versucht, ist es meist nicht. Die Geschichten, die uns auf der Suche nach Wahrheit und Lüge begegnet sind, zeigen genau das.
Ist Shayan Mokrami ein Lügner? "Natürlich bin ich das. Wir sind doch alle Lügner", sagt der Jura-Student, der mit seinen Freunden vor der Bibliothek auf dem Campus der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf steht. Vor allem als Jugendlicher habe er häufig gelogen, wenn er etwa in der Schule etwas kaputtgemacht und es einem anderen in die Schuhe geschoben habe. Der 19-Jährige spricht über Wahrheit und Lüge wie über das Mensaessen, spricht die Dinge gerade heraus aus. Er glaubt, dass nicht jede Lüge gleich schlimm ist: "Wenn ich meine Freundin betrüge, dann ist das sehr schlimm." Erfundene kleinere Lügengeschichten aus der Kindheit seien weniger gravierend. Das Ausmaß der Lüge sei entscheidend. Wenn aber alle Menschen, wie Mokrami sagt, Lügner sind, dann wird auch jeder belogen. Da hält es Mokrami mit dem Spruch "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß". Wobei: "Wenn die betrogene Freundin herausfindet, dass sie betrogen wurde, verletzt das doch sehr." Wenn man wirklich eine schlimme Lüge erzähle, fühle man sich aber auch nicht gut. Während sich dann aber höchstens das schlechte Gewissen in Form eines Stiches im Magen meldet, scheint belogen zu werden, ins Mark zu treffen, wenn man ihm folgt.
Die Lüge und ihre Folgen scheinen aber vor allem dann Menschen hart zu treffen, wenn sie im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Frei nach der Fallhöhen-Theorie im Drama: Je höher der Status, desto tiefer der Fall. Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg mit seiner Doktorarbeit ist ein Beispiel. Oder Christian Wulff. Sebastian Edathy. Uli Hoeneß. Christoph Daum. Bekannte Menschen, von denen wir glauben, sie beim Lügen erwischt zu haben, die sich irgendwo in diesem Bereich zwischen der kleinen Unwahrheit und der großen Lüge bewegt haben. Was sagen sie zur Wahrheit und zur Lüge, was ist der Grenzbereich? Wie bewerten sie ihre eigene Geschichte, in Zeiten, in denen Männer, die nachweislich gelogen haben, Außenminister von Großbritannien und Präsident von Amerika werden können? Entsprechende Anfragen unserer Redaktion lassen die meisten von ihnen unbeantwortet, lassen sie ablehnen oder lehnen sie wie Sebastian Edathy persönlich ab. Sie reden nicht.
Lothar Hörning redet. Er war Karnevalsprinz in Düsseldorf, ist Mitbegründer des schwul-lesbischen Karnevalsvereins KG Regenbogen. Und er ist homosexuell. Sein Leben war allerdings nicht immer so: Vor seinem Outing vor 20 Jahren war der 55-Jährige mit einer Frau verheiratet, hat mir ihr zwei Söhne. Hat er also vorher eine Lüge gelebt? "Nein", lautet die klare Antwort. Bis zu seinem 35. Lebensjahr sei er nicht homosexuell gewesen. "Dann gab es eine Begegnung auf einer Party, bei der ich irgendwann gemerkt habe, dass ich mehr als Freundschaft fühle." Das Gefühl, anders zu empfinden, das gleiche Geschlecht anziehend zu finden, es begleitete ihn ab diesem Zeitpunkt sieben Jahre lang. "Natürlich war es in dieser Zeit nicht immer da, das Gefühl kam in Wellen. Aber es war da. Ich bin aber auch nicht von heute auf morgen bewusst schwul geworden, das war ein Prozess", sagt er. Ein Prozess, an dessen Ende sich Lothar Hörning für ein Outing entschied, sich scheiden ließ, aus seiner Heimatstadt Bocholt wegzog und ein neues Leben in Düsseldorf begann. "Ich habe lange über mein Leben nachgedacht. Als ich dann aber meine Entscheidung gefällt hatte, ging alles ganz schnell: Dann habe ich innerhalb von zwei Wochen alles verändert." Weil er zu dem Zeitpunkt, als er sich endgültig sicher war, schwul zu sein, sofort handelte, habe er gar nicht die Gelegenheit gehabt, sich selbst zu belügen. Deshalb sei er mit sich im Reinen. Auch wenn sein Leben nach dem Outing nicht immer einfach war, ist er heute glücklich, erzählt stolz von seinen erwachsenen Söhnen. Hörning hat der Lüge in seinem Leben keine Chance gegeben.
Es gibt aber auch noch jene Menschen, die zwar der Lüge bezichtigt werden, dabei aber die Wahrheit gesagt haben. Der schlimmste Fall dabei ist, vor Gericht zu Unrecht verurteilt zu werden. Unschuldig hinter Gittern, der Lüge bezichtigt, weil keiner die Wahrheit glauben will - das ist ein vielgenutztes Motiv in Film und Literatur. Es kommt aber auch im wahren Leben immer wieder vor. Ein Beispiel ist der Fall Gustl Mollath: Wegen schwerer Körperverletzung und Freiheitsberaubung seiner Frau angeklagt, wurde er 2005 in die Psychiatrie eingewiesen. Immer hatte er seine Unschuld beteuert. Nach diversen Verfahren und Verfahrensfehlern wurde er schließlich 2014 nach einer langen Odyssee freigesprochen. Wie denkt Mollath über Lüge und Wahrheit? Eine Anfrage bleibt unbeantwortet.
Anika Wurth studiert Sozialwissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität. Das Wort "Lüge" mag die 28-Jährige nicht. "Ich sage immer lieber flunkern, lügen klingt gleich so schlimm", sagt sie. Und flunkern würde sie in der Tat ab und an. Wenn sie zum Beispiel ihrer Mutter auf die besorgte SMS am Abend antworte, dass sie bereits zu Hause sei, damit sich die Mutter keine Sorgen macht. Dann flunkere sie. Aber das sei schon in Ordnung, das sei schließlich eine gute Lüge, aus einem gutem Willen heraus getätigt. Gute Lügen, schlechte Lügen: Wurth unterscheidet das sehr klar. "Ich habe zum Beispiel auch lange in einem Krankenhaus gearbeitet und habe todkranke Menschen betreut. Da war es stets ein Thema, wie viel Wahrheit ein Patient ertragen kann, wenn es um die verbleibende Lebenszeit geht." Einige Menschen brächen zusammen, wenn sie erführen, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt. Sie verlören dann jeden Lebensmut, ließen sich vollkommen hängen. "Da habe ich mich immer gefragt, ob man da wirklich die volle Wahrheit sagen sollte. Sollte man nicht statt eines konkreten Zeitpunktes nur einen ungefähren Zeitraum nennen? Dann kann man die Zeit vielleicht mehr genießen." Am Ende seien die Mediziner immer vollends ehrlich gewesen, so Wurth. Ihre Skepsis aber bleibt.
In Zeiten, in denen Menschen durch die Straßen laufen und "Lügenpresse" rufen, in Zeiten von Fake News, die sich binnen Minuten über Facebook, Twitter und Co. auf der ganzen Welt verbreiten, müssen sich auch Journalisten einmal mehr die Frage stellen, wie sie ihrer Sorgfaltspflicht ausreichend nachkommen können. Gespräch mit RP-Chefredakteur Michael Bröcker: "Wann haben Sie das letzte Mal gelogen?" - "Weiß ich nicht. Wahrscheinlich gerade", sagt er. Deutlicher wird er mit Blick auf den Kampf gegen die Zeit, den vor allem Online-Journalisten täglich ausfechten. "Das journalistische Handwerk, das akkurate Arbeiten muss für uns alle Priorität haben, trotz Zeitnot", sagt er. Wenn wir Journalisten uns dem Vorwurf der Lügenpresse nicht aussetzen wollten, müssten wir noch genauer hinschauen, noch genauer recherchieren - und unsere Geschichte dann schreiben, wenn wir sehr, sehr sicher seien. "Die Eilmeldung ist nicht die beste Form des Journalismus'", so Bröcker. Anders, als es vielleicht in anderen Lebensbereichen ist, gelte für Journalisten aber unter jeder Bedingung: Du sollst nicht lügen.
Manchmal ist der Fall also doch deutlich, ist die Position zu Wahrheit und Lüge klar definiert. Doch das ist eben nicht immer der Fall: Oft ist die Lüge nicht so schlecht wie ihr Ruf und die Wahrheit nicht so gut, wie ihr Ruf uns glauben macht. Eines zeigt der Blick auf diese beiden alles und nichtssagenden Begriffe jedoch auf jeden Fall: Die spannendsten Geschichten liegen zwischen Lüge und Wahrheit und in der Antwort auf die Frage, warum man sich für eines von beidem entscheidet.
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RP ONLINE, 23.04.2025