Wir sitzen hier zufällig zusammen, bei Käsebrötchen und Apfelschorle, als die Frau mir erzählt, wie sie fast ihr Leben verloren hätte. Im Speisesaal der Jugendherberge Düsseldorf stehen angebrochene Limoflaschen auf dem Tisch, auf Pappbechern bedankt sich das Deutsche Rote Kreuz (DRK) für die Spendenbereitschaft.
Die Dame am Tisch hat ihre Spende hinter sich. Vor 20 Jahren, erzählt sie, stand bei ihr eine große Operation an, für die sie zwei Eigenblutspenden abgab. Als sie aufwachte, hatte man ihr Blut jemand anderem gegeben. Sie kam auf die Intensivstation - bis neue Blutspenden im Krankenhaus ankamen. „Da habe ich gemerkt, wie sehr Spenden gebraucht wurden”, sagt sie. Seitdem spendet sie, an diesem Tag zum 15. Mal.
Es stimmt: Blut ist ein knappes Gut, auch heute wieder. Gerade in den Ferienzeiten sind die Blutbanken fast leer: Was reinkommt, geht wenige Stunden später wieder raus. Gut vier Millionen Vollblutspenden wurden 2016 in Deutschland abgegeben, 2010 waren es noch fast fünf Millionen.
Auch die Uniklinik Düsseldorf, die einen eigenen Spendedienst hat, kann ihren Bedarf nicht mehr selbst decken und ist auf Zukäufe unter anderem vom DRK angewiesen. Zwar bemühen sich viele Krankenhäuser, Präparate aus Blut sparsamer zu verwenden. Doch durch die Alterung der Gesellschaft wird in den kommenden Jahren trotzdem mehr Blut benötigt.
Eine Etage über dem Speisesaal hat das DRK zehn blaue Liegen aufgestellt, aus dem Radio dudelt Musik. Der Arzt im Nebenraum begutachtet meinen Fragebogen. Haben Sie in den letzten vier Wochen Medikamente eingenommen? Wo waren Sie in den vergangenen Monaten im Ausland? Dann geht es zur Spende.
Zugegeben: Die Nadel ist dicker als beim Hausarzt, doch nur der kurze Pieks tut weh. Drei Probenröhrchen laufen voll, dann wird mein Blut in einem Beutel auf einer Waage gesammelt. Sind 500 Milliliter erreicht, piepst das Gerät. Es ist meine erste Spende beim DRK.
Als Studentin habe ich an der Uniklinik Köln gespendet – die 25 Euro Aufwandsentschädigung konnte ich gut gebrauchen. Beim DRK bekommt man kein Geld, dafür Brötchen, einen Plausch mit den ehrenamtlichen Senioren am Empfang, mit etwas Glück eine Tafel Schokolade.
Trotzdem macht das DRK laut eigenen Angaben keinen Gewinn mit den Spenden, obwohl Krankenhäuser für einen Beutel 200 bis 300 Euro zahlen. Die DRK-Blutspendedienste sind gemeinnützig und müssen ihre Einkünfte reinvestieren – in Labortechnik, Spendenbusse oder Personal. Am Ende kostet ein Blutbeutel nicht mehr, als das DRK für ihn ausgegeben hat. So werden die Kosten für die Krankenhäuser gering gehalten.
Als mein Gerät piepst, bleibe ich kurz liegen. Mein Blutbeutel wird in eine Kühlkiste sortiert, 60 Spenden wird das Team an diesem Tag hier einsammeln. Auf meiner Liege, Arm hinterm Kopf, frage ich mich, wer meine Spende wohl bekommen wird. Aus dem Radio singt Max Giesinger: „Einer von 80 Millionen“.
Im Labor wird das Plasma eingefroren. Die verschiedenen Farben kommen durch Hormone und den Fettgehalt des Blutes zustande. Quelle: Milena Reimann
Schon in der Nacht nach der Spende ist die Kiste mit meinem Blut im DRK-Zentrallabor in Hagen angekommen. Es rattert leise im Souterrain des Gebäudes, in drei schlichten, langen Räume stehen bauchhohe Maschinen. Auf Transportbändern fahren die Röhrchen mit den Blutproben von einem Gerät ins nächste. Fast alles ist hier automatisiert. Nicht ohne Grund: „Alle Röhrchen sehen gleich aus, da machen Menschen schnell Fehler“, sagt Laborleiterin Regine Rietz.
Schon nachts arbeiten die Mitarbeiter hier, um die Spenden schnell freigeben zu können. Dafür durchlaufen die Proben einige Tests: auf HI-Viren zum Beispiel, die Aids auslösen, auf Hepatitisarten, Ringelröteln und Syphilis. Wenn ein Test anschlägt, wird die Blutspende selbst bei falschem Alarm entsorgt.
Jeden Tag werden in Hagen mehr als 3000 Spenden getestet. Immer wieder werden die Tests angepasst, dafür gibt der Arbeitskreis Blut des Robert-Koch-Instituts regelmäßig neue Auflagen heraus. „Blutpräparate waren noch nie so sicher“, sagt Rietz.
Die Wahrscheinlichkeit, sich über eine Bluttransfusion mit HIV zu infizieren, ist in Deutschland laut DRK kleiner als eins zu 4.300.000. „Das Risiko, auf dem Weg zur Spende zu verunglücken, liegt viel höher“, sagt Rietz.
Während das Labor meine Röhrchen testet, wird meine Blutspende am anderen Ende des Geländes schon durchgewirbelt. In einer Zentrifuge setzten sich die drei Blutbestandteile in Schichten im Beutel ab: oben die roten Blutkörperchen (Erythrozyten), in der Mitte eine dünne Schicht Blutplättchen (Thrombozyten) und unten das gelblich-durchsichtige Blutplasma.
Einige Plasmen sind sogar grünlich, was meist daran liegt, dass Spenderinnen die Pille nehmen, erklärt man mir. Andere sind trüb wie halbflüssiges Wachs, was daran liegt, dass die Spender zuvor fettig gegessen haben. Ein Problem für die Weiterverarbeitung ist beides nicht.
Meine Thrombozyten werden dieses Mal nicht gebraucht, sie sind nur vier Tage haltbar. Mein Plasma wandert für einige Wochen in die Tiefkühlung, und mein Beutel mit den roten Blutkörperchen wartet im Kühlschrank auf Abholung – 42 Tage ist er haltbar.
Solche Erythrozyten-Konzentrate werden an die Krankenhäuser vom DRK in Hagen aus geliefert. Der kleinere Beutel ist für Babys. Quelle: Milena Reimann
Sechs Tage später liegt mein Beutel mit den roten Blutkörperchen in einem Labor-Kühlschrank im Düsseldorfer Norden: Das Florence-Nightingale-Krankenhaus der Kaiserswerther Diakonie braucht im Jahr mehr als 2000 Erythrozyten-Konserven für seine Patienten. Eine Woche später geht eine Art Rezept bei Laborleiterin Gabriele Griszewski ein.
Mein Blut, heißt es auf dem Zettel, soll an eine Krebspatientin gehen, eine Blutprobe der Frau liegt bei. Die Blutgruppen von mir und der Patientin passen, trotzdem wird immer auch eine Kreuzprobe gemacht: Ein paar Tropfen meiner Erythrozyten mischt Griszewski mit dem Plasma der Patientin. Die Mischung verklumpt nicht, das Blut gilt als verträglich.
Dass mein Blut in der Krebstherapie eingesetzt wird, ist ein typischer Fall. 19 Prozent aller Spenden werden laut DRK für Krebskranke gebraucht, sie sind die häufigsten Empfänger. Nur zwölf Prozent der Spenden setzt man bei Unfallopfern ein. Denn das Kriterium, ob jemand eine solche Spende bekommt, ist das Hämoglobin (Hb) – nicht die verlorene Blutmenge.
Das Hämoglobin sitzt in den roten Blutkörperchen und transportiert den Sauerstoff durch den Körper. Erst wenn der Hb-Wert unter eine gewisse Grenze sinkt, wird transfundiert, erklärt der Leitende Oberarzt der Intensivstation, Jürgen Barwing.
Es sei denn, man ist Zeuge Jehovas.Die Mitglieder dieser Religionsgemeinschaft, sagt der Transfusionsverantwortliche Barwing, lehnen Fremdbluttransfusionen ab. Und ohne Einwilligung der Patienten geht es natürlich nicht. Eine solche Patientin lag einmal im Florence Nightingale Krankenhaus. Ihr Hb-Wert sei sogar kurzzeitig so tief gesunken, dass die Ärzte sie ins künstliche Koma legen mussten. Ganz langsam habe sich der Hb-Wert wieder verbessert – und die Patientin überlebte ohne Schäden.
Bei Krebspatienten funktioniert genau das nicht. Weil eine Chemotherapie das Zellwachstum stoppt, werden meist auch keine neuen Erythrozyten gebildet. Bei gesunden Menschen sind das drei Millionen neue rote Blutkörperchen pro Sekunde, die den Krebspatienten fehlen. Wer zu wenige davon hat, fühlt sich müde, wird kurzatmig, bekommt einen schnellen Herzschlag, erklärt Barwing. Die Frau, die mein Blut bekommen hat, braucht etwa alle drei Wochen eine solche Transfusion. Zwei Stunden musste sie in einem Sessel der onkologischen Tagesklinik sitzen. Tröpfchenweise wurde ihr das Blut verabreicht, erklärt Barwing später. Sie habe es gut vertragen. Treffen durfte ich die Frau nicht, Spender und Empfänger sollen einander nicht kennen.
Mitarbeiter in Schutzanzügen in der Plasmaverarbeitung. Quelle: Biotest AG
Aus dem Bürofenster im fünften Stock fällt der Blick auf die zehn Kilometer entfernte Skyline von Frankfurt am Main, weiter links liegt der Frankfurter Flughafen. Hier im Gewerbegebiet von Dreieich wird mein Plasma in einigen Wochen bei der Firma Biotest angeliefert. Bis daraus Medikamente entstehen, vergehen Monate.
Das Paul-Ehrlich-Institut, das in Deutschland für die Zulassung biomedizinischer Arzneimittel zuständig ist, listet Dutzende Präparate, die aus Blut hergestellt werden dürfen. Dazu zählen verschiedene Erythrozyten-Konzentrate, aber auch eine Vielzahl an Plasma-Medikamenten. Im Plasma finden sich nützliche Eiweiße, zum Beispiel Antikörper oder Gerinnungsfaktoren. Letztere sorgen dafür, dass sich Wunden wieder schließen.
Bei Bluterkranken ist diese Gerinnung gestört – haben sie eine Wunde, besteht das Risiko, dass sie verbluten. Ein Bluterkranker brauche im Jahr Medikamente aus dem Plasma von rund 1200 Spendern, um ein normales Leben zu führen, erklärt Dirk Neumüller, Sprecher von Biotest. „Wir sind Lebensretter“, sagt er bei meinem Besuch.
So sieht eines der Arzneimittel aus Plasma am Ende aus. Quelle: Biotest AG
Gegenüber den Aktionären formuliert die Firma das vermutlich so: Biotest hat 2016 rund 34 Millionen Euro Gewinn gemacht – das Unternehmen gehört noch zu den kleineren Firmen der Branche. Für manch einen Blutspender ist das ein moralisches Spannungsfeld: Die Blutspende hilft Menschen, bringt der Pharmaindustrie aber auch Geld. Deshalb zahlt Biotest den Plasmaspendern in den eigenen Zentren eine Aufwandsentschädigung. Dort wird den Spendern mit einem speziellen Verfahren statt Vollblut nur das Plasma entnommen.
In der Anlage in Dreieich werden die gefrorenen Plasmabeutel bei der Ankunft nach verschiedenen Kriterien erfasst und ins minus 35 Grad kalte Lager gebracht. 60 Tage müssen ab der Spende vergehen, bis die Beutel weiterverarbeitet werden dürfen.
Erkrankt in dieser Zeit ein Spender an einer übers Blut übertragbaren Krankheit, werden das Plasma verworfen und der Spender gesperrt. Die freigegebenen Chargen landen an der Beutelaufschneidestation.
Mit Kettenhandschuhen stehen hier täglich acht Mitarbeiter und ziehen die Plasmabeutel über ein am Tisch befestigtes Messer. Wie Wassereis drücken sie das Plasma aus den Beuteln. In einem Edelstahlkessel beginnt dann die Medikamentenproduktion.
Durch die Produktionsräume, deren Rohrsysteme und Kessel an eine Brauerei erinnern, laufen die Mitarbeiter in blauen Einmalanzügen – hier gelten strenge Hygieneregeln. Um bestimmte Eiweiße aus dem Plasma zu gewinnen, nutzt Biotest verschiedene Verfahren. Zum Beispiel wird Ethanol hinzugefügt oder der pH-Wert verändert. Oder das Plasma durchläuft Nanofilter, die nur bestimmte Stoffe durchlassen. So werden auch möglicherweise vorhandene Viren aus dem Plasma entfernt – sie sind größer als die für das Medikament benötigten Stoffe und bleiben im Filter hängen.
Die aus dem Plasma gewonnenen Stoffe werden mit verschiedenen Lösungen aufbereitet und in kleine Flaschen gefüllt. Medikamente aus Plasma sind flüssig, damit sich die Patienten die Lösung ins Blut spritzen können. Eine letzte Sichtkontrolle führen hier noch Menschen durch, sie halten die Fläschchen vor eine schwarze und eine weiße Wand, um Unreinheiten zu erkennen. Dann rauschen die Medikamente über ein Fließband zur Verpackungsanlage, bekommen Karton und Beipackzettel. An diesem Tag ist er in albanischer Sprache.
80 Vertriebspartner und 2500 Mitarbeiter hat Biotest weltweit. Der Markt für Plasma-Medikamente wird weiter wachsen, sagt Neumüller. Weil die Diagnosen besser werden, mehr Einsatzgebiete gefunden werden – und weil die Menschen dicker werden und die Medikamente nach Gewicht dosiert sind.
Also will auch Biotest weiter wachsen. Neue Plasmazentren eröffnen 2018 in den USA, Tschechien und Ungarn, in Dreieich wird demnächst eine neue Produktionslinie eingeweiht. Aus dem Bürofenster schaue ich zum Frankfurter Flughafen. Im Minutentakt starten die Flugzeuge.
In einigen Monaten wird mein Plasma hier bei Biotest in kleinen Fläschchen abgeholt und per LKW in deutsche Krankenhäuser und Apotheken gebracht. Oder es hebt mit einem dieser Flugzeuge ab und hilft Menschen in einem anderen Land.
Um die Zahl der Plasmaspenden muss sich die Branche keine großen Sorgen machen, sie steigt seit Jahren. Vollblutspenden dagegen, aus denen die roten Blutkörperchen gewonnen werden können, gibt es immer weniger. Gerade der Jahresbeginn ist eine schwierige Zeit: An Weihnachten liegt niemand gern im Krankenhaus – wer kann, hat seine Operation oder die Chemotherapie aufs nächste Jahr verschoben. Und so hoffen die Spendedienste auch in diesem Januar, dass ihnen nicht irgendwann das Blut ausgeht.
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RP ONLINE, 17.12.2024