Der Wannsee liegt verschlafen vor der Tür, ein älterer Herr fegt Laub. Das Haus der Wannseekonferenz öffnet um zehn, eine Schulklasse grölt herum. Die Nazis berieten in der Villa die „Endlösung der Judenfrage Europas”. Auf einer Tafel steht: „Die NSDAP stieg in der Krise der parlamentarischen Republik zu einer Massenbewegung auf.”
Die B1 führt ins Zentrum der Hauptstadt. Von Wannsee über Zehlendorf und Dahlem nach Mitte. Aus Stadt wird Großstadt. Die Häuser wachsen, die Autos werden teurer, die Menschen schneller. Ab Schöneberg Tempo 30, Luftreinhaltung.
Daniela, Talia und Marcel, man duzt sich, wärmen sich in einem spärlichen Büro des Vereins Gangway in Berlin-Friedrichshain an Tee. Vier, fünf Zimmer weiter hat die Deutsche Kommunistische Partei einen Sitz, unten arbeitet die Redaktion von „Neues Deutschland”, einer sozialistischen Zeitung. Um die Ecke ist das „Berghain“.
Daniela, Talia und Marcel, 44, 25 und 43, sind Streetworker. Friedrichshain ist ihr Bereich. Wahnsinnig viele Touristen, hip, bunt, friedlich. So beschreiben sie ihren Kiez. Bloß für Jugendliche ist es schwer. „Kommerzieller Raum ist massig vorhanden”, sagt Marcel Ramin, „aber kein nicht-kommerzieller Raum.”
Früher gab es in Friedrichshain Rückzugsorte in Hinterhöfen. „Wenn Jugendliche heute auf Spielplätzen abhängen, kommt sofort eine Mutter mit Latte Macchiato und verjagt sie”, sagt Daniela Telleis, seit 20 Jahren auf den Straßen Berlins unterwegs.
Die drei bewegen sich im Lebensraum der Jugendlichen, denen das Zuhause zu eng ist, gedanklich oder tatsächlich. Auf der Straße akzeptieren die Streetworker die Regeln der 14- bis 27-Jährigen. Sie treten nicht auf wie die Moralpolizei, mit erhobenem Zeigefinger und dem Daumen auf der Notruftaste.
Gangway, der Trägerverein, bietet Hallenfußball, Lebensratschläge und Ferienfreizeiten an. Die Unterkünfte werden so gebucht, dass sie jederzeit wieder abgesagt werden können. Keine Ahnung, ob die Jugendlichen wirklich mitkommen. “Je mehr soziale Medien es gibt, desto unverbindlicher werden die Menschen”, sagt Daniela.
Zurzeit beschäftigt sie hauptsächlich das Nachbarhaus. 300 bis 400 rumänische Roma, die zu elft oder zwölft in Ein- bis Drei-Zimmer-Wohnungen leben. Ein DDR-Plattenbau, unsaniert, nach dem Mauerfall stand er leer, bis eine Moskauer Firma das Bieterverfahren gewonnen und die Bretter von den Fenstern genommen hat. Die Kinder weichen auf die Straßen aus, dort treffen sie Daniela, Talia und Marcel. Die zeigen ihnen Jugendeinrichtungen oder helfen bei Problemen in der Schule.
Die Streetworker machen sich Sorgen. “Manchmal habe ich Angst, wohin es sich politisch entwickelt”, sagt Daniela. “Es gibt so viele Parallelen zur Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg”, sagt Marcel. “Eine gefährliche Entwicklung”, sagt Talia. Wie Pflaster seien sie als Streetworker. Es reicht nur für die kleinen Wunden.
Das Georg-Friedrich-Händel-Gymnasium, keine zwei Kilometer weiter. Auf die Schule kommt nur, wer ein Musikinstrument beherrscht. Alle Schüler sind verpflichtet, vier Stunden in der Woche in einem Chor oder Orchester des Gymnasiums zu proben. “Für die richtigen Freaks”, so nennt es Musiklehrer Manuel Haase, 29, gibt es einen weiteren Chor. Er wurde nach der Straße benannt, an der die Schule liegt: “Be one”.
Vera Zweiniger, 53, und Haase leiten den Chor. “Sei eins”, das gefällt ihnen gut, weil es darum ja genau gehe, bei einem Chor. Und dann liegt eben noch diese B1 vor der Tür.
Die Schüler sind politisch engagiert und reisen für den Unterricht aus Brandenburg an. Bei der U18-Wahl kamen die Grünen an dem Gymnasium auf mehr als 70 Prozent. Der Migrationsanteil unter den Schülern ist verschwindend gering. “Probleme wie andere Schulen in der Gegend haben wir nicht”, sagt Haase.
Sie fragen sich, ob es sinnvoll ist, den Dreiklang zu behandeln, während draußen die Bäume sterben. Oder ob Konzertreisen an das andere Ende der Welt noch zeitgemäß sind. “Es kommen globale Probleme auf uns zu, die unsere gesamte Existenz infrage stellen”, sagt Vera Zweiniger. “Die Gesellschaft droht zu kippen”, sagt Haase, “aber das können wir hier nicht beobachten.”
Draußen, auf der dunklen Straße, sitzt eine junge Frau mit braunen, halblangen Haaren breitbeinig auf einem Stromkasten. Sie trägt Sportklamotten und hat ihre weißen Tennissocken über die Leggings gezogen. Ihr Abendessen kommt aus einem Pappkarton, und der aus einem Imbiss. Bei der Metzgerei gegenüber essen Frauen mit Hornbrille und abrasierten Haaren, Kopfhörer im Ohr, Gulasch, Rotkohl und Knödel.