Reportage

Letzter Aufruf Sizilien

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Jeden Monat kommen Tausende Menschen in den Häfen Siziliens an. Für die Insel ist der Ausnahmezustand zum Alltag geworden. Doch seit diesem Sommer sinken die Zahlen: Die Fluchtroute nach Sizilien, das letzte Tor zu Europa, schließt sich.

Von Vanessa Martella, Phil Ninh und Christina Rentmeister



Kapitel 1

Palermo – Vom Schämen und Schirmen

Das Teatro Massimo ist das größte Opernhaus Italiens. Quelle: RP

Das Teatro Massimo ist das größte Opernhaus Italiens. Quelle: RP


„Umbrella, umbrella!“ – Dicke Tropfen prasseln auf die Piazza Verdi vor dem Teatro Massimo in Palermo, dem größten Opernhaus Italiens. Auch auf Sizilien hat der Herbst eingesetzt. Deshalb sind es nicht mehr Strandtücher oder Kokosnüsse, die von fliegenden Händlern angeboten werden. Im Herbst sind es Schirme. Angeboten von zumeist afrikanischen Männern jeden Alters, die Arme voll behangen. Touristen bieten sie den Regenschutz für fünf Euro an, auch wenn die Qualität der Schirme das kaum hergibt. Ein paar Straßen weiter handelt ein Schulmädchen lautstark mit einem jungen Mann in den Zwanzigern. Sie sind bei zwei Euro angekommen. Sie flucht, der Verkäufer auch. Am Ende bekommt sie drei Schirme für fünf Euro, für sich und ihre Freundinnen.

Die Schirmhändler sind gefühlt überall, alle paar Meter steht einer, manchmal zwei. Manche tragen Marken-Sneakers, andere zu große, abgenutzte Hemden. Von sich erzählen wollen die meisten nicht. Kein Wunder, das Schirmgeschäft läuft unter der Hand und viele sprechen nur wenig Italienisch.

Das sind die Schirmhändler von Palermo



Die riesige Zahl fliegender Händler gibt einen Hinweis darauf, wie viele Menschen in den vergangenen Jahren aus Afrika nach Italien gekommen sind. 2016 waren es mehr als 180.000 und auch in diesem Jahr sind bereits mehr als 116.000 Menschen an Land gegangen, mehr als 60 Prozent davon in Sizilien.

Der Weg über das Mittelmeer ist die letzte große Fluchtroute nach Europa: Auf Sizilien war der Flüchtlingsstrom bis zum Sommer ungebrochen. Das hat der Insel einiges abverlangt. Die Kommunen sind arm, doch Einwohner, Helfer und Politiker predigen die sizilianische Gastfreundschaft. Schon bald müssen sie das vielleicht nicht mehr: Die EU will mit umstrittenen Verbündeten wie der libyschen Küstenwache die zentrale Mittelmeerroute schließen.



Im Hafen von Palermo kommen im Vergleich zum Rest der Insel eher selten Boote an – die Stadt liegt an der Nordküste Siziliens. Ende Oktober hat die zentrale Koordinationsstelle in Rom aber wieder eines in die Hauptstadt der Region geleitet. Die italienischen Medien sprechen von einem „nave di bambini“, einem Kinderschiff, weil 240 der 600 Geretteten minderjährig sind. Das jüngste Kind war am Ankunftstag gerade einmal sechs Tage alt.

Zu Beginn des Sommers war die Lage angespannt. Italien verzeichnete wieder Rekordankunftszahlen und die Stimmung gegenüber Flüchtlingen, dem italienischen Staat und der Europäischen Union wurde selbst im immer-toleranten Sizilien hitziger. Spricht man Einheimische auf die Flüchtlinge in der Stadt an, verweisen aber auch viele auf Siziliens Geschichte. Schon immer sei Sizilien ein Tor zu Europa gewesen. Von der EU fühlen sich viele dagegen im Stich gelassen.

Der Flüchtlingsstrom ebbte unerwartet mitten im Hochsommer ab: Während im Juni noch mehr als 23.000 Menschen an Land gingen, waren es im August weniger als 4.000. Nichtregierungsorganisationen sehen den Grund dafür in der Finanzierung der libyschen Küstenwache. Im Juli hatte die EU Libyen dafür 46 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Zusätzlich zu 90 Millionen Euro, die bereits im April zur Verbesserung der Flüchtlingslager geflossen waren.

Das sagen Einheimische und Touristen über Flüchtlinge und die EU



Im Rathaus von Palermo könnte der Rückgang des Flüchtlingsstroms eigentlich für Erleichterung sorgen. Doch Leoluca Orlando macht einen anderen Eindruck. Der Bürgermeister von Palermo ist kein leiser Mensch, schon seit Jahren kämpft er lautstark für einen besseren Umgang mit Flüchtlingen. Dass die EU mit Libyen zusammenarbeitet, bringt den promovierten Juristen in Rage: Im italienischen Fernsehen bezeichnete er den europäischen Umgang mit der Migrationskrise kürzlich als kriminell, Europa mache sich des Völkermordes schuldig. „Für diesen Genozid muss man sich als Europäer schämen“, sagt er.

Während Orlando, der auch als Anti-Mafia-Bürgermeister gilt, schon seit den 90er Jahren eine Institution in Palermo ist, kippt die politische Stimmung auf dem Rest der Insel nach rechts. Bei den Regionalwahlen im November brachte es der Kandidat aus Silvio Berlusconis Partei Forza Italia auf 36 Prozent. Er wurde auch von den ausländerfeindlichen Parteien Lega Nord und der Rechtspartei Fratelli d’Italia unterstützt. Nur knapp dahinter lag der Kandidat der europakritischen 5-Sterne-Bewegung. Die Sozialdemokraten wurden dagegen mit knapp 19 Prozent abgestraft.

Jeder zweite junge Sizilianer ist arbeitslos

Die Flüchtlingskrise kostet Sizilien Ressourcen, die viele gerne in andere Probleme investieren würden: Mehr als die Hälfte der Jugendlichen hier ist ohne Job. Dazu gibt es Probleme bei der Müllentsorgung und die Haushaltskassen sind chronisch leer, viele Gebäude in der Stadt sind heruntergekommen.

Das können auch die goldenen Strahlen der Herbstsonne nicht beschönigen. Die Wolken haben sich verzogen und mit ihnen verschwinden auch die Schirmverkäufer so schnell wie sie gekommen sind. Manche satteln nun um, zum Beispiel auf billigen Schmuck. Andere warten einfach ab. Warten auf den nächsten Wolkenbruch.

Werfen Sie einen Blick in Palermos Straßen


Kapitel 2

Catania - Nicht genug, nicht schutzbedürftig


An Kai Nummer vier im Hafen von Catania versperren zwei Polizisten den Weg. An einer der hinteren Anlegestellen, von der Stadtseite aus schwer zu erkennen, hat die Vos Hestia angelegt. Das Rettungsschiff der britischen Hilfsorganisation Save the Children ist von einer mehrwöchigen Mission zurückgekehrt. Die Crew ist sechs Schlauchbooten in den internationalen Gewässern vor der libyschen Küste zu Hilfe gekommen, mehr als 600 Menschen haben sie auf ihr Schiff geholt.

Das Empfangskomitee ist groß und vor allem routiniert. In langen Schlangen werden die Neuankömmlinge vom Schiff geleitet. Alle haben T-Shirts von Save the Children bekommen – rot mit weißem Print. Manche tragen es am Körper, andere um den Kopf gewickelt, als Schutz vor der Sonne. Es geht von Station zu Station: Identifikation. Medizinischer Check. Willkommenspaket abholen – Wasser, etwas zum Anziehen, oft eine Decke. Schuhe, für die, die barfuß dastehen. Danach geht es in ein eingezäuntes Areal. Ein Polizeiaufgebot stellt sicher, dass sich keiner dem Verfahren entzieht.

Sehen Sie die Ankunft der Vos Hestia im Video



Die Erwachsenen werden auf Erstaufnahmeeinrichtungen im ganzen Land verteilt. Minderjährige ohne Begleitung kommen in einem Heim oder einer Pflegefamilie unter. Das italienische Gesetz sieht vor, dass sie erst einmal eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen und zur Schule gehen.

Auch heute sind rund 60 Minderjährige ohne Familie oder Begleitung von Bord gegangen, die meisten im Teenager-Alter. Sie könnten Kandidaten für das „Relocation“-Verfahren der Europäischen Union sein, das bisher aber kaum Erfolge gebracht hat.



Zwischen September 2015 und September 2017 sollten die übrigen EU-Mitgliedstaaten Italien und Griechenland eigentlich 160.000 Neuankömmlinge abnehmen, Bewerber mit guter Aussicht sollten deshalb direkt nach ihrer Ankunft umgesiedelt werden. Tatsächlich umgesetzt wurde das aber für weniger als 30.000 Menschen. Und von denen sind nur 9.000 in Italien an Land gegangen, der Rest war über Griechenland in die Europäische Union eingereist.Flüchtlinge afrikanischer Herkunft haben ohnehin schlechte Chancen - und das sind die meisten, die in Sizilien ankommen.



Bis September konnte die Kommission deshalb nur 7.200 Flüchtlinge ausmachen, die für das Verfahren geeignet sind - Mehr als 100.000 Menschen waren zu diesem Zeitpunkt bereits in Italien angekommen. Und so werden auch die Neuankömmlinge von der Vos Hestia ihren Asylantrag wohl in Italien stellen.

Kapitel 3

Catania/Syrakus – Helfende Hände

Seit Jahren setzt sich Imam Kheit Abdelhafid für Flüchtlinge in Sizilien ein. Quelle: Kheit Abdelhafid

Seit Jahren setzt sich Imam Kheit Abdelhafid für Flüchtlinge in Sizilien ein. Quelle: Kheit Abdelhafid

Einige der Menschen, die hier am Hafen von Catania von Bord gehen, könnten an Land auf Kheit Abdelhafid treffen. Der Imam leitet die „Moschea della Misericordia“, die Moschee der Barmherzigkeit an der Piazza Cutelli Mario im Herzen Catanias. Das Gebetshaus ist das größte seiner Art im Süden Italiens, sagt Abdelhafid. Gerade ist er vom Mittagsgebet in sein Büro zurückgekehrt.

Der Imam ist über die Grenzen von Catania hinaus bekannt: Er ist der Vorsitzende der Islamischen Vereinigung von Sizilien und seine Gemeinde ist zu einer Anlaufstelle für hilfsbedürftige Migranten geworden. Bei Kheit Abdelhafid können sie kurzfristig unterkommen, es gibt eine Art Tafel und dank Spenden frische Anziehsachen. Der Imam ist stolz auf seine Arbeit und stolz auf Sizilien. „Sizilien kann ein Vorbild sein für Italien und auch für Europa”, sagt er über die Gastfreundschaft auf der Insel.

Yoro Ndao ist vor drei Jahren aus dem Senegal nach Sizilien gekommen und geblieben. Quelle: RP

Yoro Ndao ist vor drei Jahren aus dem Senegal nach Sizilien gekommen und geblieben. Quelle: RP

Einer, der Sizilien seit seiner Ankunft nie verlassen hat, ist Yoro Ndao. Seit drei Jahren lebt der Senegalese in Syrakus, einer touristischen Hafenstadt im Südosten Siziliens. Ursprünglich war er in Augusta an Land gegangen, rund 30 Kilometer weiter nördlich. Doch Geschichten über Padre Carlo brachten ihn nach Syrakus. Der Pfarrer der Gemeinde Maria Madre Della Chiesa ist eine regelrechte Berühmtheit unter afrikanischen Migranten.

„Wenn du ein Problem hast, gehst du zu Padre Carlo, jeder weiß das“, erzählt Yoro. Als er im Februar 2014 am Hafen von Augusta ankam, übernachtete er drei Monate lang in einem verlassenen Haus am Busbahnhof. Nicht alle, die mit Yoro auf dem Boot waren, haben die Flucht über das Mittelmeer überlebt. Dann hörte er von Padre Carlo und reiste nach Syrakus. Drei Jahre später ist Yoro zum Assistenten des Pfarrers geworden. „Padre Carlo sagt, ich bin seine rechte Hand. Und seine linke.“

Wenn Carlo D’Antoni außerhalb der Stadt ist, wie jetzt, kümmert sich Yoro um die Kirche und die jungen Männer, die im Pfarrhaus untergekommen sind. 24 schlafen hier derzeit in Stockbetten, vor ein paar Monaten waren es noch 60 bis 65. Auch hier ist zu spüren, dass die Zahl der Migranten zurückgegangen ist.

In der Kirche von Padre Carlo finden Migranten Zuflucht. Quelle: Carlo d'Antoni

In der Kirche von Padre Carlo finden Migranten Zuflucht. Quelle: Carlo d'Antoni

In der Küche wird gerade Essen gemacht, im Topf kochen Spaghetti. „Sauber machen müssen alle zusammen, das klappt mal besser, mal schlechter,“ erzählt Yoro. Manche hier warten noch auf eine Anerkennung als Asylsuchende. Andere, die Padre Carlo aufnimmt, wurden bereits abgelehnt.

Zusammen mit Yoro fährt der Pfarrer regelmäßig aufs Land rund um Syrakus, wo junge Afrikaner ein Zeltlager aufgeschlagen haben. Tatsächlich werden in Italien nur wenige nach dem Asylverfahren als Flüchtling im Sinne der Genfer Konvention anerkannt, 2016 waren es knapp 5 Prozent. Etwa 21 Prozent dürfen aus humanitären Gründen bleiben, rund 60 Prozent werden in der ersten Instanz abgewiesen.



Regelmäßig bekommt Padre Carlo Unterstützung aus Deutschland: Das Projekt Seehilfe e.V. leistet Flüchtlingshilfe auf Sizilien und unterstützt die Arbeit des Pfarrers mit Spenden. Agata Vecchio ist für den Verein vor Ort. Nachdem sie sieben Jahre lang in Leipzig als Übersetzerin gearbeitet hat, hat es sie zurück nach Sizilien gezogen.

Die Stimmung auf Sizilien beschreibt sie als angespannt. „Die Menschen hier sind es gewöhnt, dass Flüchtlinge über das Mittelmeer kommen“, erzählt sie. „Aber Anfang des Sommers dachte ich, wir sitzen auf einem Pulverfass.“ Die Ankunftszahlen hatten wieder ein Rekordniveau erreicht, die Diskussion in Medien und Politik wurde hitziger. Doch seitdem weniger Flüchtlinge ankommen, habe auch die Spannung wieder etwas nachgelassen.

Die Wut gegen Politiker

Fragt man Yoro Ndao nach Politikern, winkt der erst einmal ab. Sie seien doch alle gleich: Große Versprechungen vor Wahlen und dann passiert nichts mehr, wenn sie im Amt sind. Politik interessiere ihn nicht besonders. Dann gerät er aber doch in Rage über die europäische Politik. „Sie alle müssen sich bewusst sein, dass sie mitverantwortlich sind für die künftigen Toten.“

Im Innenraum der Kirche Maria Madre Della Chiesa lehnt eine kleine Gedenktafel an der Wand. Sie erinnert an die Menschen, die auf dem gleichen Schiff waren, auf dem auch Yoro nach Italien gekommen ist, es aber nicht lebend geschafft haben. Warum er geflohen ist, erzählt er nicht, dafür umso mehr über sein neues Leben in Italien. Er arbeitet gerne für Padre Carlo, er hat Freunde gefunden in Syrakus. „Ich bin immer noch sehr froh, dass ich nach Europa gekommen bin“, sagt er und geht zurück zum Pfarrhaus.

Kapitel 4

Catania – Aus dem Augen, aus dem Sinn


Zurück am Hafen: Versteckt hinter der Menschenschlange, die sich von der Vos Hestia zu den weißen Zelten der Behörden und Ärzte schlängelt, liegt ein weiteres Schiff, nur eine Anlegestelle weiter. Auf der „Aquarius“ geht es deutlich ruhiger zu, das Schiff liegt schon seit ein paar Tagen im Hafen von Catania. Hier laufen bereits Vorbereitungen: Noch ein Tag, dann bricht die Aquarius zu ihrer nächsten Rettungsmission auf. Die Crew besteht zum Teil aus Mitarbeitern von SOS Mediterranee, teils von Ärzte ohne Grenzen. Heute werden noch Vorräte aufgestockt, neue Crewmitglieder eingewiesen, alte verabschiedet.

Gerade zeigt Lauren King einem neuen Kollegen seine Kajüte. Die junge Australierin koordiniert die Kommunikation von der Aquarius. Über soziale Medien und Pressemitteilungen berichtet sie von ihrer Arbeit.

Die Aquarius wird von Ärzte ohne Grenzen und SOS Mediterranee betrieben. Quelle: Reuters

Die Aquarius wird von Ärzte ohne Grenzen und SOS Mediterranee betrieben. Quelle: Reuters

Seit einigen Monaten ist sie schon auf dem Rettungsschiff unterwegs. Wofür sie die Pause im Hafen genutzt hat? „Einen Haarschnitt!“, sagt sie und lacht.

Wer die Crew über das Deck laufen sieht, kann sich schwer vorstellen, dass sich hier auch schon mehr als 1000 Menschen gleichzeitig gedrängt haben. „Sie sitzen überall, in den Gängen, dicht beieinander. Hinlegen geht dann kaum, aber wir können ja keinen auf See zurücklassen“, erzählt Lauren. Die Kapazität liegt eigentlich bei rund 600 Personen. Trotzdem wurde für Frauen und Kinder im Inneren des Schiffs ein abgeschirmter Bereich eingerichtet. „Viele haben sexuelle Gewalt erfahren und brauchen die Chance, sich zurückzuziehen.“

„Die EU will Grenzen schützen, nicht Menschen.“

Die Kajüte von Marcella Kray ist leicht zu finden, sie liegt gleich am Anfang eines Gangs, der über viele Abzweigungen durch das Schiff führt. Der kleine Raum dient gleichzeitig als Büro und ist deshalb etwas größer als die üblichen Schlafkabinen. Die Projektmanagerin für Ärzte ohne Grenzen beobachtet mit Sorge, dass die Zahl der Flüchtlinge im Sommer zurückgegangen ist. Augenzeugen an Bord berichten, dass immer noch Tausende in Libyen auf eine Überfahrt warten, dass aber immer mehr Boote von der libyschen Küstenwache zurückgebracht werden. „Die libysche Küstenwache zu finanzieren, wäre nicht meine Priorität“, kommentiert Marcella Kray das Vorgehen der Europäischen Union. „Die EU will Grenzen schützen, nicht Menschen.“

Viele, die auf der Aquarius an Bord gehen, berichten von grausamen Zuständen in lybischen Lagern, von Folter, Vergewaltigung, Erpressung. Eigentlich ist Libyen bislang nur Transitland für Flüchtlinge gewesen – mittlerweile seien aber auch Libyer unter den Menschen, die die Aquarius aus dem Mittelmeer rettet. Wenn die EU irgendein Problem lösen wolle, „das sollte es sein,“ schließt die Niederländerin bestimmt.

Marcella Kray bei einem Einsatz im Mittelmeer. Quelle: Marcella Kray, Reuters

Marcella Kray bei einem Einsatz im Mittelmeer. Quelle: Marcella Kray, Reuters

Auch die europäische Grenz- und Küstenwache Frontex hat den Rückgang der Ankünfte registriert. Um Ursachen zu benennen, sei es aber noch zu früh und die Lage zu unübersichtlich. Die Agentur veröffentlicht jedes Quartal eine Risikoanalyse, in der sie den Zustand der EU-Außengrenzen unter die Lupe nimmt. Für 2017 gibt es diese bislang nur für das erste Quartal, als die Ankunftszahlen noch gestiegen sind.

„Grenzschutz ist wichtig, aber nicht die einzige Lösung, wenn es darum geht, Migrationsströme in den Griff zu bekommen“, sagt Izabella Cooper. Die Frontex-Sprecherin arbeitet im Hauptsitz in Warschau. Seit der Eskalation der Flüchtlingskrise 2015 befindet sich die Agentur im Aufbau: Bis 2020 wird es drei Mal so viele Mitarbeiter, mehr Budget, mehr Kompetenzen geben.

Frankreich will Flüchtlingsbehörden in Afrika

„Es ist notwendig, das Schmuggler-Netzwerk zu demontieren und legale Kanäle der Migration zu öffnen“, sagt Izabella Cooper. Letzteres wird auch unter den europäischen Staats- und Regierungschefs heiß diskutiert: Die französische Flüchtlingsbehörde will Büros in Niger und Tschad eröffnen und 3.000 Menschen die legale Einreise nach Frankreich ermöglichen.

Ursprünglich sprach Präsident Emmanuel Macron auch von einem Büro in Libyen, machte dann aber einen Rückzieher - wegen der enormen Sicherheitsprobleme. Für Helfer wie Marcella Kray ist es ein Widerspruch, dass trotzdem Menschen von der Küstenwache zurückgebracht werden sollen.

Im September ist das Team der Aquarius bei einem Einsatz auf die libysche Küstenwache (links) getroffen. Quelle: Reuters

Im September ist das Team der Aquarius bei einem Einsatz auf die libysche Küstenwache (links) getroffen. Quelle: Reuters

„Wenn sie auf der anderen Seite des Meeres festhängen, können wir so tun, als würden sie nicht existieren. Aus den Augen, aus dem Sinn“, fasst sie die Haltung vieler EU-Staaten aus ihrer Sicht zusammen. Mit ihrem Team wird die Projektleiterin den Winter über durchfahren. Nach ein paar Monaten wird sie dann abgelöst. Die Aquarius ist das einzige von Nichtregierungsorganisationen betriebene Schiff, dass wintertauglich ist.

Insgesamt retten NGOs 32 Prozent der Boote, die die libyschen Gewässer verlassen. Die meisten würden es aus eigener Kraft nicht nach Italien schaffen, denn die Schlepper haben sich an die Präsenz der Rettungsboote im Mittelmeer gewöhnt. Oft ist der Treibstoff so bemessen, dass sie es gerade in internationale Gewässer schaffen, wo Küstenwache und NGOs sie einsammeln können.



Ein Umstand, der den Rettungskräften von Kritikern vorgehalten wird. Ihre Präsenz hat es Schleppern erleichtert: Die müssen ihre „Kunden“ nun nur noch auf das Meer hinausschaffen, den Rest erledigen dann Helfer.

Darauf hat auch die italienische Regierung reagiert und den NGOs einen Verhaltenskodex diktiert. Beispielsweise sollen die Schiffe permanent zu orten sein und die Übergabe von Menschen an größere Schiffe ist nur noch eingeschränkt möglich. Nach einigen Verhandlungen haben die meisten Nichtregierungsorganisationen unterschrieben.

Rettungsschiff Iuventa beschlagnahmt

Der Berliner Verein „Jugend rettet“ gehört nicht dazu. Sein Rettungsschiff „Iuventa“ wurde Anfang August von den italienischen Behörden beschlagnahmt. Die Besatzung soll mit libyschen Schleppern kooperiert haben, das Verfahren läuft.

Die Aquarius will trotzdem weiterfahren. Dass die Zahl der Ankommenden insgesamt abnimmt, hat auf diesem Schiff keine Bedeutung. Die Crew hat keine Zweifel daran, dass sie auch dieses Mal auf ein Boot Hilfesuchender stoßen. Und dann wird es ganz schnell wieder voll an Deck.

Was erlebt das Team der Aquarius in den internationalen Gewässern vor der libyschen Küste? Gehen Sie mit an Bord in unserem Video:



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