Gestrandet in Kolumbien
Gestrandet in Kolumbien
Geschrieben von Jana Bauch
Kolumbien. Geplant ist eine Reise durch die Nebelwälder, Wüste, Gebirge und den Dschungel, mit meiner Studienfreundin Annika und ihrem Freund Linus. Für gemeinsame Projekte sind Annika und ich schon oft zusammen verreist, ohne kleinere und größere Katastrophen verlief das nie. Eine dreitägige Abschleppaktion mit einem VW-Bus in England, fiebrige Lebensmittelvergiftungen auf Kuba oder auch ein Roadtrip mit einem Kleinwagen durch die Namib-Wüste nach Saint Nowhere, bei dem uns erst Lebensmittel ausgingen, wir dann mit 100 Stundenkilometern ins Schleudern gerieten und schließlich ein wilder Elefant, der direkt vor uns auf der Fahrbahn auftauchte. Das sind nur einige gemeinsame Erlebnisse, die uns verbinden. Annika ist definitiv der Mensch, mit dem ich am häufigsten fast gestorben bin. Dass unser Roadtrip durch Kolumbien unproblematisch verlaufen wird, ist also relativ unwahrscheinlich.
Montag, 9. März 2020
Bestätigte Fälle in Deutschland 🇩🇪: 1176
Bestätigte Fälle in Kolumbien 🇨🇴: 1
Ich fliege von Düsseldorf aus über Madrid nach Bogotá. Der Flugverkehr läuft ohne Einschränkungen. Das Coronavirus ist an den europäischen Flughäfen kaum präsent. Ich sehe zwei oder drei Menschen mit Atemschutzmasken. In Bogotá müssen Einreisende einen Fragebogen zu Corona ausfüllen, außerdem wird Fieber gemessen.
Samstag, 14. März 2020
Bestätigte Fälle in Deutschland 🇩🇪: 4585
Bestätigte Fälle in Kolumbien 🇨🇴: 16
Die kolumbianische Regierung gibt bekannt, dass deutsche Touristen, die nach dem 11. März 2020 eingereist sind, in ihrer Unterkunft zwei Wochen in Quarantäne bleiben müssen. Mit meinem Einreisestempel vom 9. März bin ich nicht betroffen.
Sonntag, 15. März 2020
Bestätigte Fälle in Deutschland 🇩🇪: 5795
Bestätigte Fälle in Kolumbien 🇨🇴: 24
Deutschland kündigt an, ab Montagmorgen die Grenzen zu mehreren Ländern weitgehend zu schließen. Die Regierung stellt eine Rückholaktion für deutsche Touristen im Ausland in Aussicht. Kolumbien steht noch nicht auf der Liste für diese Luftbrücke.
Annika wacht mitten in der Nacht auf und macht sich Sorgen. Linus schläft. Ich bin der Meinung, dass wir am besten erstmal abwarten, was passiert. Es kommt wie es kommt, viel tun kann man eh nicht. Ich versuche, meine Fluggesellschaft zu erreichen. Die einzige Auskunft am Telefon ist, dass man sich momentan nur um Flüge kümmere, die in den nächsten 48 Stunden starten sollen. Ich muss also warten.
Montag, 16. März 2020
Bestätigte Fälle in Deutschland 🇩🇪: 7272
Bestätigte Fälle in Kolumbien 🇨🇴: 24
Die Regierung in Kolumbien beginnt damit, die Landesgrenzen zu schließen. In NRW findet ab heute kein Schulunterricht mehr statt.
Eine Reise mit dem Floß von Laetizia nach Iquitos in Peru wird es also nicht geben. Annika und Linus überlegen, ob sie in zwei Wochen vorzeitig zurück nach Deutschland fliegen sollen. Annika telefoniert mit der Botschaft. Anschließend berichtet sie, man habe ihr gesagt, dass wir auf keinen Fall online einen Rückflug nach Deutschland buchen oder ohne Flugticket zum Schalter fahren sollten. Wir sollen uns an unsere Fluggesellschaft wenden - Annika und Linus haben keine. Was wir sonst tun sollten, könne man uns nicht sagen. Wir holen unseren Mietwagen ab und fahren nach Salento.
Dienstag, 17. März 2020
Bestätigte Fälle in Deutschland 🇩🇪: 9257
Bestätigte Fälle in Kolumbien 🇨🇴: 45
Das Auswärtige Amt gibt eine weltweite Reisewarnung heraus. Touristen, die im Ausland festsitzen, können sich in die Krisenvorsorgeliste Elefand eintragen. Für eine Rückholaktion von Touristen in aller Welt sollen 50 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Die kolumbianische Regierung verordnet, dass alle Landesgrenzen bis zum 30. Mai geschlossen werden.
Mittwoch, 18. März 2020
Bestätigte Fälle in Deutschland 🇩🇪: 12.327
Bestätigte Fälle in Kolumbien 🇨🇴: 65
Annika und Linus haben noch keinen Rückflug. Sie buchen bei einer amerikanischen Fluggesellschaft für den 25. März. Die meisten Flüge nach Europa sind ausgebucht oder immens teuer. Die Preise liegen zwischen 1.500 und 12.000 Euro. Sie finden einen Rückflug mit zwei Zwischenstops in den USA, der unter 500 Euro kostet. Ich gehe noch davon aus, dass mein schon gebuchter Rückflug mit einer spanischen Fluggesellschaft stattfindet. Bisher wurde mein Flug lediglich vom 7. auf den 6. April verschoben.
Donnerstag, 19. März 2020
Bestätigte Fälle in Deutschland 🇩🇪: 15.320
Bestätigte Fälle in Kolumbien 🇨🇴: 93
Die Behörden geben bekannt, dass der Flughafen El Dorado in Bogotá von Sonntag auf Montag schließen wird.
Dann erfahren wir von der bevorstehenden Schließung des Flughafens. Annika und Linus hängen sechs Stunden in der Warteschleife ihrer Fluggesellschaft. Die Mitarbeiter wirken wenig informiert. Schließlich bucht ein Supervisor, der noch nichts von der Flughafen-Schließung wusste, ihren Flug auf Samstagmorgen um. Wieder versuche ich, meine Fluggesellschaft zu erreichen. Mein Rückflug am 6. April wurde bisher noch nicht abgesagt. Ein Angestellter teilt mir mit, dass alle Flüge nach Europa ausgebucht seien. Da das Flugverbot von der Regierung verordnet worden sei, könne mir die Fluglinie nicht helfen. Die einzigen Flüge für unter 4000 Euro gibt es jetzt noch bei einer amerikanischen Fluggesellschaft über die USA. Ich buche einen Flug für etwa 450 Euro. Allerdings gibt es einen Reisehinweis des Auswärtigen Amtes, dass Deutsche, die über die USA reisen, innerhalb der letzten 14 Tage nicht in Deutschland gewesen sein dürfen. Das sollte ganz knapp hinkommen, bevor der Flughafen schließt.
Am Nachmittag fährt ein Fahrzeug mit Lautsprechern durch den Ort. Es spielt abwechselnd fröhliche Salsa-Musik und verkündet: "Please stay isolated". Ab 20 Uhr abends gilt eine Ausgangssperre, sie wird mit diversen Sirenen angekündigt.
Freitag, 20. März 2020
Bestätigte Fälle in Deutschland 🇩🇪: 19.848
Bestätigte Fälle in Kolumbien 🇨🇴: 108
Um neun Uhr morgens steht ein Polizist im Hostel und will die Einreisedaten in den Pässen kontrollieren, weil alle Deutschen, die noch keine 14 Tage im Land sind, in Quarantäne müssen. Ich gehe ins Zimmer und überlege, ob ich mich lieber im Bettkasten verstecken oder aus dem Fenster klettern soll. Kurz darauf kommt Annika rein. Der Polizist hat wieder nur den Stempel meiner Freunde kontrolliert und ist gegangen. Im Laufe des Tages bekommt Annika eine SMS ihrer Fluggesellschaft, eine Teilstrecke des Rückflugs wurde gecancelt. Mit dem Mietwagen machen wir uns auf den Rückweg von Salento nach Bogotá und kommen in vier weitere Polizeikontrollen.
Kontrolle 1: Es regnet. Die Polizei hat offenbar keine Lust zu arbeiten.
Kontrolle 2: Die Polizei kontrolliert nur LKWs.
Kontrolle 3: Die Polizei macht nichts.
Kontrolle 4: Bogotá. Wir werden angehalten und dürfen nicht durch, weil Bogotá abgesperrt ist und nur noch Taxen, Lebensmittellieferanten und Krankenfahrzeuge passieren dürfen.
Der Polizist möchte, dass wir das Auto an Ort und Stelle stehen lassen und mit dem Taxi weiterfahren. Dann fragt er nach unseren Pässen, was wir ignorieren. Stattdessen geben wir ihm einen Führerschein. Das reicht. Ein zweiter Polizist kommt zur Diskussion dazu. Nach zehn Minuten Überzeugungsarbeit dürfen wir dann doch durch.
23.15 Uhr - am Flughafenschalter. Linus und Annika haben Glück, ihr gecancelter Flug wird auf 0.14 Uhr umgebucht. Sie können nach Hause fliegen, Erleichterungs- und Abschiedstränen. Ich muss wegen des Ausreisestempels bleiben. Nach meiner Rechnung dürfte ich von Sonntag auf Montag fliegen. Der Mann am Schalter zählt Tage, versichert mir, dass ich von Samstag auf Sonntag fliegen darf, und druckt mir ein neues Ticket aus. Sinn macht das nicht, aber gut für mich, denke ich.
Im Wartebereich treffe ich Paty aus Frankreich wieder, die ich in der letzten Woche in einem Hostel kennen gelernt habe. Sie hat keinen Rückflug und steht bei einer kolumbianischen Fluggesellschaft auf Wartelistenplatz 416. Wir gehen zurück zum Mietwagen, der nicht mehr vom Parkplatz bewegt werden darf, trinken Cuba Libre und sind froh, dass wir nicht zwischen den hunderten anderen Backpackern im Flughafen auf dem Boden schlafen müssen. Regulär darf der Flughafen eigentlich nicht mehr verlassen werden. Beim Versuch, die Fenster des geschlossenen Autos zu öffnen, lösen wir fünf mal den Alarm aus. Jetzt werden wir von einem Sicherheitsbeamten umkreist.
Samstag, 21. März 2020
Bestätigte Fälle in Deutschland 🇩🇪: 22.213
Bestätigte Fälle in Kolumbien 🇨🇴: 145
Flughafen El Dorado in Bogotá. Menschen in Schlafsäcken liegen auf dem Boden. Menschen sitzen im Kreis und spielen Karten. Menschen fragen nicht nach Namen, sondern nach ihren Nummerierungen. Menschen weinen und Menschen jubeln, wenn jemand einen Flugplatz nach Hause bekommen hat. Einen Flugplatz bekommen, ein Sechser im Lotto. Patys Wartelistenplatz ist Nummer 416. Pro Flieger ihrer Airline werden rund zehn Plätze vergeben. Das kann dauern.
Um 11.15 Uhr bekomme ich einen Anruf, dass ich den Mietwagen sofort abgeben muss. Dann bin ich jetzt wohl erstmal obdachlos. Mein Flug soll Sonntagnacht um 0.14 Uhr gehen. Zudem cancelt meine Fluggesellschaft heute den Rückflug vom 6. April. Um 21 Uhr beginnt der Check-in.
Um 22 Uhr bin ich dran. Der erste Beamte zählt. „Un, dos, tres…" Er nimmt die Finger zur Hilfe. Zählt noch mal, und noch mal, und holt einen Kollegen. Sein Kollege beginnt ebenfalls zu zählen. „Un, dos, tres…" Er telefoniert mit der U.S.-Einreisebehörde, die legt anscheinend irgendwann einfach auf. Er gibt auf und schickt mich zu einem anderen Schalter.
Es ist jetzt 23.15 Uhr. Die Beamtin zählt und zählt. Sie stellt fest: Nein, das passt nicht. Sie versichert mir, dass ich am Montag früh, 24 Stunden später, mit dem vorletzten Flug der Fluggesellschaft fliegen darf. Ich bekomme wieder ein neues Ticket.
Sonntag, 22. März 2020
Bestätigte Fälle in Deutschland 🇩🇪: 24.873
Bestätigte Fälle in Kolumbien 🇨🇴: 196
Der Tag vor dem Lockdown des Flughafens. Die Stimmung im Hostel ist entspannt. Sonne, gutes Essen und ein schöner Ausblick über Bogotá, fast wie ein Hotelurlaub. Heute bin ich mir wirklich sicher, dass ich zurückfliegen kann. Schließlich sind bei Abflug um 0.14 Uhr 14 Tage um. Abends fahre ich zusammen mit Olivia zum Flughafen, sie hofft auf einen Rückflug über die Warteliste. Der Flughafen ist immer noch ein Hotel. Ohne Flugticket kommt man nicht mehr rein. Vorsorglich wird der ganze Flughafen dauerdesinfiziert. Die Versorgung ist gut. Inzwischen gibt es mehr als 200 Feldbetten. Flughafenmitarbeiter verteilen Gratismahlzeiten der verschiedenen Restaurantketten. Von Freunden erfährt Olivia, dass die Reihenfolge der Warteliste nicht mehr eingehalten wird und nun Leute mit einem späteren Rückflug Vorrang haben.
Gegen 21 Uhr stehe ich am Schalter. Der Angestellte kontrolliert meinen Pass und mein Flugticket. Wieder fängt er an zu zählen: „Un, dos, tres…" Er zählt nochmal und nimmt seine Finger zur Hilfe. Er holt eine Kollegin, sie schüttelt den Kopf. Er zählt. Er telefoniert mit der U.S.-Einreisebehörde. Er holt noch einen Kollegen. Er läuft weg. Ein Kollege kommt und schreibt Daten auf mein Flugticket. Er fängt an zu zählen, diesmal startet er beim 10. März, nicht beim 9. März. Zudem, sagt er, müssten 14 volle Tage vergangen sein, in denen ich nicht in Europa gewesen sei, so dass ich erst am 15. Tag ausreisen dürfe. Die sechs Stunden Zeitverschiebung zählen nicht.
Das Resultat: Ich dürfe erst Dienstag ausreisen. Die allerletzten Flüge von diesem Flughafen aus gehen am Montag, der letzte Flug meiner Airline hebt gegen sieben Uhr am Montagmorgen ab. Die Angestellten sagen, sie könnten leider nichts mehr für mich tun, da sie sonst eine Strafe zahlen müssten. Ich muss bleiben. Zum ersten mal während der ganzen Ereignisse werde ich krass wütend. Wie kann man mir drei Tage lang jeweils mit drei Angestellten aufs Neue ein Flugticket ausdrucken und bestätigen, dass ich auch wirklich am nächsten Tag fliegen darf? Hätten die Angestellten am Freitag so gezählt wie heute, hätte ich noch die Möglichkeit gehabt, einen anderen Flug zu buchen. Zurück ins Hostel, ein Gesellschaftsspielvorschlag: Rückflugplatzpoker.
Montag, 23. März 2020
Bestätigte Fälle in Deutschland 🇩🇪: 29.056
Bestätigte Fälle in Kolumbien 🇨🇴: 196
In Deutschland gilt ab heute ein umfangreiches Kontaktverbot. Gruppen von mehr als zwei Personen im öffentlichen Raum sind verboten, wenn es sich nicht um Angehörige desselben Haushalts handelt. Das öffentliche Leben kommt fast vollständig zum Erliegen. Bundesaußenminister Maas sagt bei einer virtuellen Pressekonferenz, dass bereits etwa 120.000 im Ausland gestrandete Deutsche zurückgeholt werden konnten. Zehntausende warten noch auf einen Rückholflug. Nach den Haupturlaubsgebieten sollen jetzt abgelegenere Ziele an die Reihe kommen.
Ob die Eintragung für das Rückholprogramm funktioniert hat, weiß ich nicht, da man keine Bestätigungsmail bekommt. Beim Klick auf Senden kommt eine Fehlermeldung, mehrfach. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Formular in der letzten Nacht total übermüdet schon einmal ausgefüllt habe und die Fehlermeldung deswegen angezeigt wird. Andere Deutsche aus dem Hostel haben eine Mail mit einem Formular zum Ausfüllen bekommen, ich nicht. Die Eintragung in eine weitere Rückholliste von Condor hat funktioniert. Ich sitze im Hostel und warte auf die Luftbrücke.
Mittwoch, 25. März 2020
Bestätigte Fälle in Deutschland 🇩🇪: 37.323
Bestätigte Fälle in Kolumbien 🇨🇴: 306
Olivia und Paty konnten inzwischen über ihren Wartelistenplatz nach Hause fliegen.
Am frühen Abend erhalte ich eine Mail, dass ich für Donnerstagmittag einen Platz in einem Rückholflug habe. Die Stimmung ist gespalten, denn zwei der zehn deutschen Reisenden haben keinen Platz in dem Rückholflieger bekommen.
Donnerstag, 26. März 2020
Bestätigte Fälle in Deutschland 🇩🇪: 43.938
Bestätigte Fälle in Kolumbien 🇨🇴: 470
Freitag, 27. März 2020
Bestätigte Fälle in Deutschland 🇩🇪: 47.278
Bestätigte Fälle in Kolumbien 🇨🇴: 470
Um 8.30 Uhr landet die Maschine in Frankfurt. Die Passagiere dürfen das Flugzeug nur in Kleingruppen verlassen, die sich anschließend am Gepäckband wieder stauen. Den ICE von Frankfurt nach Mönchengladbach kann ich mit dem Luftbrückenticket kostenfrei nutzen. Der Zug ist fast menschenleer. Ich freue mich über den komfortablen Platz auf dem letzten Abschnitt meiner Heimreise. Zuhause angekommen befestige ich als erstes die kolumbianische Hängematte am Hochbett. Von jetzt an nur noch Hängemattenurlaub. Erstmal.
Jana Bauch arbeitet als Fotografin für die Rheinische Post.
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Quelle für die Infiziertenzahlen: Johns-Hopkins-Universität (Deutschland), WHO (Kolumbien)
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RP ONLINE, 13.11.2024