70 Jahre Grundgesetz

Was uns zu freien Menschen macht

Geschrieben von Nils Rüdel

Grundrechte begleiten unser Leben von morgens bis abends. Die Artikel 1 bis 19 regeln die kleinen Fragen des Lebens – und die ganz großen. Doch unsere Freiheit ist nicht grenzenlos.

Sieben Uhr morgens, irgendwo in Deutschland. Beim Frühstück schlägt Max Mustermann, ein ganz normaler Bürger, die Zeitung auf und liest einen kritischen Kommentar über die Bundesregierung. Er ärgert sich und verschafft sich Luft bei Twitter. Mustermanns Laune kann das nicht trüben, denn die Sonne scheint, und er überlegt, am Wochenende an den See zu fahren. Er checkt seine E-Mails, trinkt seinen Kaffee aus und fährt los. Er bringt die Kinder zur Schule und fährt zur Arbeit. An diesem Morgen geht Mustermann sicher viel durch den Kopf – dass es nicht selbstverständlich ist, dass er seinen Morgen so gestalten konnte, gehörte vermutlich nicht dazu. Garant dafür ist das Grundgesetz: Ohne dass es Max Mustermann bewusst ist, haben mehrere Grundrechte im Hintergrund gewirkt.

Die Zeitung ist nicht zensiert, für die Kritik auf Twitter wird er nicht bestraft (Artikel 5: Freiheit der Meinung, Kunst und Wissenschaft). Er muss nicht fürchten, dass Polizisten das Wohnzimmer stürmen (Artikel 13: Unverletzlichkeit der Wohnung). Auch E-Mails werden nicht mitgelesen, wenn der Schreiber nicht gerade Drogenhändler ist (Artikel 10: Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis). Jeder kann seinen Beruf frei wählen (Artikel 12: Berufsfreiheit), seine Kinder erziehen, wie er es will (Artikel 6: Ehe, Familie, Kinder). Und auch wo Menschen am Wochenende hinfahren, geht den Staat nichts an (Artikel 11: Freizügigkeit).

Die Grundrechte machen uns zu freien Menschen. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, Bürger vor einem übergriffigen Staat zu schützen, wie etwa bei der Meinungsfreiheit. Sie garantieren aber auch Ansprüche an den Staat. So muss er für ein menschenwürdiges Existenzminimum sorgen (Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“), unser Leben schützen (Artikel 2) oder Schulen bereitstellen (Artikel 7: Schulwesen). Die Grundrechte ermöglichen es auch, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, zum Beispiel durch Vereine (Artikel 9: Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit). Und schließlich strahlen sie auch in die Beziehungen zwischen Privatpersonen ab. Gleiche Rechte für Männer und Frauen im Sinne des Artikels 3 (Gleichheit vor dem Gesetz) gelten auch am Arbeitsplatz.

Die Grundrechte bilden die Werteordnung unserer Gesellschaft. Das Grundgesetz wurde vor 70 Jahren als Gegenentwurf zur Nazidiktatur geschaffen. Nach einer Ära der totalen Kontrolle des NS-Staates über die Bürger war das Grundgesetz die Antwort. Es wurde zum Bauplan eines freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats. Im Mittelpunkt steht der Mensch, dessen freie Entfaltung der Staat garantiert. Zum Teil entspringen die Grundrechte den Menschenrechten. Dazu gehören die unantastbare Menschenwürde, das Recht auf Freiheit, Leben und körperliche Unversehrtheit, das Gleichheitsprinzip und Diskriminierungsverbot oder die Glaubens- und Gewissensfreiheit.

Alle staatliche Gewalt hat die Grundrechte zu achten. Sie „binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“, schreibt Artikel 1 Absatz 3 vor. Artikel 1 wurde sogar mit Artikel 20, der die Strukturprinzipien Demokratie, Bundesstaatlichkeit sowie Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit festschreibt, mit einer Ewigkeitsgarantie abgesichert (Artikel 79 Absatz 3). Artikel 1 und 20 können niemals geändert oder abgeschafft werden.

Wer seine Grundrechte verletzt sieht, kann sie einklagen. Im Alltag sind die Grundrechte damit immer Sache der Auslegung und Abwägung. Sie können, bis auf Artikel 1, eingeschränkt werden. Natürlich darf niemand unter Berufung auf die allgemeine Handlungsfreiheit (Artikel 2) tun und lassen, was er will. Wer morgens um 4 Uhr Posaune spielt, verletzt die Rechte seines Nachbarn. Wer jemanden beleidigt, kann sich nicht mehr auf die Meinungsfreiheit berufen. Wer, ohne zu fragen, das Foto eines Bekannten bei Facebook veröffentlicht, verletzt dessen Persönlichkeitsrecht aus Artikel 2 in Verbindung mit Artikel 1.

Der Staat kann Grundrechte nur durch Gesetze oder aufgrund von Gesetzen einschränken. Werden Menschen zu einer Haftstrafe verurteilt, wird für diese Zeit unter anderem ihr Recht auf Freizügigkeit eingeschränkt. Der Staat zieht Steuern ein und beschränkt damit unser Recht auf Eigentum (Artikel 14). Er sanktioniert Bürger, wenn sie ihre Kinder nicht zur Schule gehen lassen, und greift damit in Artikel 6 ein. Um seiner Pflicht nachzukommen, die Gesundheit der Bürger zu schützen, kann er an Straßen mit hoher Schadstoffbelastung Fahrverbote verhängen – unsere Freizügigkeit muss dann zurückstehen.

Aber: Für Eingriffe in Grundrechte und Grundrechtsschranken gelten besonders strenge Anforderungen. Jeder Eingriff muss verhältnismäßig sein. Je schwerer er ist, desto höher sind die Hürden. Ob eine Beschränkung im konkreten Fall gerechtfertigt ist, entscheiden im Zweifel Gerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht.

Erst die Rechtsprechung hat die abstrakt formulierten Grundrechte mit Leben gefüllt. Wie weit geht der Schutzbereich der Meinungsfreiheit? Ein Schild mit der Aufschrift „Soldaten sind Mörder“ ist davon gedeckt – wer es allerdings einem Soldaten direkt ins Gesicht schreit, kann sich nicht hinter dem Grundrecht der Meinungsfreiheit verstecken, sondern hat die juristischen Konsequenzen zu tragen. Dürfen Muslime aus Glaubensgründen Tiere schächten? Im Prinzip ja, sagt das Bundesverfassungsgericht. Ist es erlaubt, ein entführtes Passagierflugzeug abzuschießen, das auf ein voll besetztes Stadion zusteuert? Kann also das Leben der einen schützenswerter sein als das Leben der anderen? Karlsruhe sagt: nein.

Seit 70 Jahren regeln die Grundrechte und deren Auslegung die kleinen und großen Fragen des Lebens. Wie hoch muss ein menschenwürdiges Existenzminimum sein? Wie ist es um die Würde alter Menschen bestellt, wenn in Pflegeheimen empörende Zustände herrschen? Wie vertragen sich Menschenwürde und Forschungsfreiheit? Die Antworten auf diese und weitere Konflikte werden unseren Alltag weiter prägen. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wussten 1948/49 noch nicht, welche politischen und gesellschaftlichen Fragen sich im Jahr 2019 stellen und wie die Menschen dann leben würden. Aber mit den Grundrechten haben sie dafür gesorgt, dass die Idee vom freien Individuum, das im Zentrum allen staatlichen Handelns steht, auch 70 Jahre später noch Realität ist.

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Von Nils Rüdel (Text), Phil Ninh (Design und Programmierung)


RP ONLINE, 18.04.2024

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