Geschrieben von Marlen Keß
Geschrieben von Marlen Keß
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„Also lasse recht bald und ausführlich von Dir hören und sei Du und alle herzlich gegrüsst und geküsst von Deiner Aenne“
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Diese Zeilen schreibt Anna Amalie Katz, genannt Aenne, am 13. Juni 1944 aus dem Ghetto Litzmannstadt im von den Deutschen besetzten polnischen Lodz an Lotte Nienaber in Düsseldorf. Am 8. Juli stempelt sie die Postkarte ab. Es ist das letzte Mal, dass Lotte von ihrer Halbschwester hört. Zwei Tage später wird Aenne mit ihrem Mann Emil in das Vernichtungslager Kulmhof deportiert, am 11. Juli wird das jüdische Ehepaar ermordet. In Gaswagen tötet die SS dort innerhalb weniger Wochen mehr als 10.000 Juden. Ihre Leichen werden verbrannt.
Von Aenne und Emil, 42 und 52 Jahre alt, bleiben einige wenige Fotos, die im Archiv der Alten Synagoge in Essen lagern, und fünf Postkarten aus dem Ghetto Litzmannstadt. Diese werden im Archiv von Yad Vashem, der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem, aufbewahrt. Sie gehören zu den mehr als 10.000 Korrespondenzstücken, die im dortigen Archiv lagern: Briefe, Postkarten, Notizen, Telegramme.
Die erste Karte von Aenne Katz ist auf den 12. November 1941 datiert, wenige Wochen zuvor war das Ehepaar aus Düsseldorf deportiert worden. Auch die Mutter von Aenne und Lotte, die Kölner Jüdin Paula Heiser, lebt seit Kurzem im Ghetto. „Sie ist sehr herunter“, schreibt Aenne über den Zustand der über 60-Jährigen, „kein Wunder!“ Zudem bittet sie eindringlich, Geld und Lebensmittel zu schicken: Knäckebrot, Marmelade, Suppenwürfel.
Mehr als 150.000 Menschen leben auf engstem Raum in dem 1940 zum Ghetto erklärten Viertel von Lodz. 90 Prozent der Häuser haben keinen Abwasseranschluss. Den Juden ist es bei Todesstrafe untersagt, ohne Erlaubnis das Ghetto zu verlassen. Mehr als 40.000 Bewohner sterben zwischen 1941 und 1944 – sie verhungern, erliegen Krankheiten wie Tuberkulose oder erfrieren, teilweise auf offener Straße. „Ich hoffe, es geht Euch allen gut, jedenfalls besser wie uns“, schreibt Aenne.
Es ist nicht klar, wie viele ihrer Postkarten Düsseldorf tatsächlich erreichen und wie oft Lotte Nienaber antworten kann. Lotte überlebt den Krieg, weil sie untertaucht: Erst versteckt sie sich bei der Schwiegermutter in Duisburg, dann bei einer Familie in Bergheim. Doch zumindest ab und zu hat Aenne Katz von ihrer Halbschwester gehört. Das zeigt eine Postkarte vom 5. Dezember 1941, in der sie berichtet, dass zehn Mark eingetroffen seien, gleichzeitig aber um „regelmäßige Geldsendungen, und vor allem grössere“ bittet.
Historikern zufolge kamen viele solcher Bittbriefe nicht bei den Empfängern an. Auch die häufig grauenhaften Zustände konnten wegen der Zensur durch die Nationalsozialisten nicht ehrlich geschildert werden. „Zudem haben viele auch Details ihrer Situation verschwiegen, um ihre Liebsten nicht zu belasten und sie zu schützen“, sagt Yad Vashem-Sprecher Simmy Allen. Aennes Verzweiflung ist dennoch spürbar, etwa, wenn sie über die Geldsendungen schreibt: „Es ist das einzige, was Du für uns tun kannst, und ich bitte Dich, das nun auch mit grösster Gewissenhaftigkeit zu erledigen.“
Laut Dokumenten aus dem Archiv des Ghettos musste Emil Katz als Transportarbeiter in der Metallabteilung arbeiten, Aenne Katz ist darin ab August 1943 als Büroangestellte geführt. Im Juni 1944 ist sie in der Wäsche- und Kleiderabteilung tätig. Mit ihrem Leben vor dem NS-Regime hatte das nur wenig zu tun. Der Judaistin Martina Strehlen zufolge war Aenne Katz, geboren in Köln, eine „elegante Großstädterin, die gern ins Theater und in die Oper ging“, und zudem wenig religiös. Emil Katz hingegen entstammte einer jüdisch-orthodoxen Familie aus dem hessischen Züschen. Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er für das Deutsche Reich kämpfte, zog er nach Essen und handelte mit Sanitärartikeln.
Das Paar wohnt mit seiner Tochter Anneliese in den gutbürgerlichen Stadtteilen im Essener Süden. Im Stadtgarten geht Emil Katz mit seiner Tochter auf den Spielplatz und im Winter Schlittenfahren und Eislaufen. Am Schabbat besucht die Familie die Synagoge am Steeler Tor, die wie so viele andere in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 in Brand gesteckt wird. Am Tag darauf wird Emil Katz verhaftet und nach Dachau verschleppt. Im Dezember kehrt er zurück, als gebrochener Mann. Nur einen Monat später schicken die Eltern Anneliese zu Verwandten nach England. Ihr Vater darf sie noch bis zur niederländischen Grenze begleiten. Sie sehen sich nie wieder.
In ihren Postkarten erwähnt Aenne Katz die Tochter nicht, vielleicht aus Sicherheitsgründen. Vielmehr fragt sie ihre Halbschwester in zwei Karten, die auf Mai 1944 datiert sind, nach der Mutter. Was beide Schwestern offenbar nicht wissen: Paula Heiser lebt schon seit knapp zwei Jahren nicht mehr. In Köln erinnert ein sogenannter Stolperstein an sie. Demnach wird sie im September 1942 im Vernichtungslager Kulmhof ermordet. Ein Schicksal, das auch Emil und Aenne Katz erwartet. Vielleicht ahnten sie es: Sie freue sich, „Dir noch ein Lebenszeichen senden zu können“, schreibt Aenne Katz am 16. Mai 1944. Oft wurden solche Karten vor allem dann erlaubt, wenn ein Abtransport in ein Vernichtungslager kurz bevor stand. Knapp zwei Monate später ist Aenne tot.
Ihr Todesdatum ist der Datenbank von Yad Vashem zu entnehmen. Darin sind Millionen Namen von im Holocaust ermordeten Juden zu finden. Seit 2004 ist die Datenbank online, immer noch kommen Namen dazu und mit ihnen Geschichten und Erinnerungen. Von manchen, wie von Paula Heiser, bleiben nur Name, Geburtsort und Todesdaten, von anderen, wie von Aenne Katz, gibt es auch ein Foto. Jeder kann eine Person melden, die Information wird dann von Forschern verifiziert. So sind mittlerweile fast 4,8 Millionen Namen zusammen gekommen. Jeder von ihnen steht für einen Menschen, eine zu kurze Lebensgeschichte.
Die Einträge für Aenne und Emil Katz stammen von ihrer Tochter Anneliese. Sie überlebt den Krieg im englischen Exil und lernt dort einen Arzt aus Sri Lanka kennen, den sie 1949 heiratet. Mit ihm wandert Anneliese, die sich nur noch Anne nennt, zwei Jahre später in seine Heimat aus. Dort beginnt sie, zu schreiben – und wird als Anne Ranasinghe zu einer der berühmtesten Dichterinnen des Landes.
1983 kommt sie zum ersten Mal in ihr Heimatland zurück, zur Eröffnung der Gedenkstätte Alte Synagoge in Essen. Sie erzählt von ihrer Familie, dem ungeheuerlichen Verlust, auch in Gedichten und Kurzgeschichten. 2015 erhält sie das Bundesverdienstkreuz, am 17. Dezember 2016 stirbt sie mit 91 Jahren in Sri Lanka.
Dem 1991 erschienenen Gedichtband „At What Dark Point – 33 Holocaust Poems“ hat sie eine Widmung vorangestellt: „Den jungen Menschen in Deutschland – damit das Erinnern nicht aufhört“.
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Anlage
Yad Vashem (hebräisch für „Denkmal und Name“) wurde 1953 durch ein vom israelischen Parlament beschlossenes Gesetz gegründet. Auf dem sogenannten Berg des Gedenkens in Jerusalem befindet sich das 18 Hektar große Gelände. Dort gibt es verschiedene Museen, das Archiv, in dem unter anderem originale Auschwitz-Baupläne und die berühmten Listen Oskar Schindlers lagern, sowie Forschungs- und Schulungszentren. Rund 500 Mitarbeiter arbeiten in Yad Vashem. Die vier Säulen der Gedenkstätte sind Gedenken, Dokumentation, Forschung und Pädagogik.
Online
Auf www.yadvashem.org kann man sich in acht verschiedenen Sprachen über die Projekte der Gedenkstätte informieren. Zudem gibt es hier die Geschichte des Holocaust in 40 Kapiteln, Fotos, Videointerviews mit Zeitzeugen, Unterrichtsmaterialien und eigens konzipierte Online-Ausstellungen sowie Video-Vorträge. Auch die Datenbank mit Namen der Holocaust-Opfer ist abrufbar, zudem Informationen über die „Gerechten unter den Völkern“ – ein Programm, mit dem Yad Vashem seit den 60er Jahren Menschen ehrt, die sich während des Holocaust für verfolgte Juden eingesetzt haben.
Das Gespräch führte Frank Vollmer
Von mittelalterlichen Klöstern zur AfD ist es ein weiter Weg. Für Eva Schlotheuber waren es in den vergangenen Monaten zwei Pole ihres Wirkens. Denn Schlotheuber ist nicht nur Mittelalter-Historikerin an der Uni Düsseldorf, sondern auch Vorsitzende des Verbands der Historiker und Historikerinnen Deutschlands. Der hat im September auf dem Historikertag in Münster eine Resolution „zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie“ verabschiedet, die sich erkennbar gegen die AfD richtete. Es folgte eine Debatte über Politisierung der Historikerzunft und über Umgang mit der Geschichte. Im Gespräch verteidigt Schlotheuber die Resolution und kritisiert die Politik.
Frau Professor Schlotheuber, in einer Umfrage 2017 gaben 56 Prozent der befragten Schüler an, sie interessierten sich für Geschichte. Ist das jetzt eher wenig oder eher viel?
Schlotheuber Eher viel.
Ist Geschichtskenntnis heute wichtiger denn je, oder liegen Ihnen solche Vergleiche nicht?
Schlotheuber Geschichte ist heute deshalb besonders wichtig, weil die Fähigkeit zur Orientierung so wichtig ist. Es ist schwierig geworden, Prozesse zu verstehen und einzuordnen, weil die Herausforderungen unserer Gesellschaft – nicht zuletzt durch die Globalisierung – sehr viel komplexer geworden sind.
Einordnung und Prozessverständnis lerne ich aber ja nun in Deutsch, Englisch und Politik auch. Was ist das Alleinstellungsmerkmal von Geschichte?
Schlotheuber Der Ursprung unseres Fachs liegt in der Fähigkeit, Wahres vom Falschen zu unterscheiden, also Quellenkritik zu betreiben. Dieses Instrumentarium ist so gut, dass es auch für die digitalen Medien greift.
Wahrheit ist ein hohes Wort.
Schlotheuber Objektive Wahrheit, also das eine wahre Geschichtsbild, gibt es in der Tat nicht. Es geht um die Auseinandersetzung mit Quellen, die uns dialogfähig macht.
Also Wahrheit als Handwerk? Geschichte gegen Fake News?
Schlotheuber Es gibt nachweisbare Fakten, und es gibt Behauptungen, die nachweislich nicht stimmen. Manche alte Legenden werden heute wieder neu in Umlauf gebracht. In meiner Einführungsvorlesung in die Geschichte des Mittelalters hatte ich im vergangenen Jahr einen Studenten, der in seinen Netzwerken der mittelalterlichen „Ritualmordlegende“ begegnet ist, die als antijüdische Erzählung auf das 12. Jahrhundert zurückgeht. Diese Legende behauptet, dass Juden christliche Kinder geraubt hätten, um sie dann wie Christus zu foltern. Ich habe lange gebraucht, um den Studenten davon zu überzeugen, dass das bereits im Mittelalter eine Verleumdungslegende war, um Pogrome gegen jüdische Gemeinden zu rechtfertigen. Wenn wir solche Geschichten und ihre Ursprünge nicht kennen, ist es leicht, getäuscht zu werden. Entscheidend ist, dass wir solche Legenden ans Licht holen und diskutierbar machen.
Wenn Geschichte heute so wichtig ist – warum hat das Fach dann in NRW weniger Mindeststunden als etwa in Sachsen oder Bayern?
Schlotheuber Wahr ist leider: Wir haben in der Schule keine gute Lobby. Das liegt auch daran, dass sich die Ministerien weder mit den Schulen noch mit der Geschichtswissenschaft abstimmen. Die Kommunikation mit den Geschichtslehrern hier in Nordrhein-Westfalen ist katastrophal. Viele Klagen werden nicht aufgegriffen. Das Abitur zum Beispiel ist ein Riesenproblem.
Warum?
Schlotheuber Weil die Abiturthemen häufig völlig abseitig sind und zum Beispiel als Klausurthema Pressetexte eines unbekannten Autoren vorgelegt werden, die ihrerseits tendenziös über die Ereignisse ihrer Zeit berichten. Diese doppelte Ebene zu verstehen und zu knacken, ist extrem schwer, eigentlich unzumutbar.
Was tun also?
Schlotheuber Geschichte müsste konsequent in allen Jahrgangsstufen als eigenes Fach unterrichtet werden, nicht als Gesellschaftskunde wie an Gesamtschulen. Und es müsste ausreichend Zeit und Gelegenheit geben, dass sich Schüler im Analysieren und Formulieren üben können.
Woher dieser Substanzverlust?
Schlotheuber Unter anderem aufgrund der Orientierung der Lehrpläne an Kompetenzen statt an konkreten Inhalten – da werden einzelne Ereignisse aus dem Zusammenhang gerissen, und das Übergreifende fällt unter den Tisch. Geschichte als nachvollziehbarer Prozess wird kaum noch vermittelt. Historisches Verständnis entwickelt sich so nicht.
Also wünschen Sie sich mehr konkrete Inhalte in den Lehrplänen?
Schlotheuber Ja.
333, bei Issos Keilerei – so?
Schlotheuber Nein, nicht so. Aber die eigene Geschichte zu erarbeiten und zu verstehen, wo man selbst, wo die Mitschülerinnen und Mitschüler herkommen und wie sich die Regionen über die Zeit unterschiedlich entwickelt haben, erweitert und vertieft nicht nur den eigenen Horizont, sondern ermöglicht auch Akzeptanz und Integration. Kompetenzvermittlung ohne den konkreten historischen Zusammenhang, das ist wie Kochen mit Maßen, aber ohne Zutaten.
Können Ihre Erstsemester heute weniger als vor zehn Jahren?
Schlotheuber Die Entwicklung der letzten zehn Jahre war katastrophal. Wenn historisches Wissen vorhanden ist, dann nur über das 20. Jahrhundert. Vor allem der Impetus, forschend zu lernen, geht verloren. Es fehlt auch an Ausdrucksfähigkeit. Ich stelle regelmäßig eine Klausur, die nicht Multiple Choice ist, sondern in der die Studierenden kleinere Texte schreiben müssen. Das Ergebnis ist niederschmetternd. Selbst bei denen, die nicht durchfallen, sind die Sätze teils unverständlich.
Wie nützlich darf Geschichtsunterricht sein?
Schlotheuber Eine Gesellschaft, die Bildung auf Nutzen reduziert, wäre armselig. Das verengt unseren Blick. Und was genau ist denn gesellschaftlicher Nutzen? Was sich direkt in Geld ummünzen lässt? Nein, damit tun wir uns keinen Gefallen.
Sind Sie Kulturpessimistin?
Schlotheuber Im Gegenteil!
Das überrascht mich jetzt.
Schlotheuber Die Geschichte hält so viele Beispiele bereit, dass aus einer scheinbaren Verengung neue Ideen geboren werden. Dieses Potenzial ist immer da, in Europa erst recht mit unserem unermesslich reichen historischen Erfahrungsraum. Wir gehen aber fahrlässig mit dem großen intellektuellen und kulturellen Potenzial um, das wir haben.
Was sagt die Reaktion auf Alexander Gaulands Satz, der Nationalsozialismus sei nur ein Vogelschiss der deutschen Geschichte gewesen, über unsere Gesellschaft aus?
Schlotheuber Es gibt, heute wie früher, Kreise, die in ihrem eigenen Geschichtsverständnis nicht gestört werden möchten. Aber heute finden sich diese Personen aufgrund der sozialen Netzwerke leichter. Die Gegenstrategie muss sein, diese Aussagen im öffentlichen Raum zu diskutieren und entschieden zu widerlegen. Viel Unheil kann dieser verformende Blick auf unsere Geschichte anrichten, wenn dieser Diskurs im Untergrund bleibt. Wir setzen uns im Moment eher zu wenig als zu viel mit solchen Stimmen auseinander. Diese Debatte brauchen wir aber unbedingt. Empörung allein allerdings ist nicht produktiv – das macht nur den Gegner fett.
Ist in Deutschland die Demokratie wieder in der Defensive?
Schlotheuber Die Bundesrepublik heute mit Weimar zu vergleichen, ist vielleicht eher Angstmache, weil die wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen Anfang des 20. Jahrhunderts völlig anders waren.. Aber wir stehen vor gravierenden gesellschaftlichen Schieflagen.
Welcher Art? Abstiegssorgen? Oder tatsächlichem, also materiellem Abstieg?
Schlotheuber Beides, vielleicht auch eine gewisse Sinnentleerung. Uns fehlt eine Vision, wohin es jetzt gehen soll. Und uns fehlt eine fundierte Analyse der Gegenwart.
Zerbricht die deutsche Gesellschaft?
Schlotheuber Wir sind keine fragmentierte Gesellschaft, sondern im Gegenteil vielleicht eine der homogensten, die es jemals gab. Unsere Gesellschaft ist vor allem aufgrund der sozialen Medien sozusagen hochverdichtet. Unsere Probleme sind also eher ein Ergebnis von gelungener Integration: Wir hören mehr und schneller voneinander und können uns gegenseitig leichter beeinflussen. Das wiederum macht es schwieriger, gesellschaftliche Prozesse zu steuern.
2015 stimmten in einer Bertelsmann-Studie 79 Prozent der 18- bis 29-Jährigen dem Satz zu: „Ich ärgere mich, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden.“ Machen wir zu viel Hitler in der Schule?
Schlotheuber Dem Satz darf man nicht zustimmen, aber der Geschichtsunterricht sollte sich auch nicht allein auf den Nationalsozialismus konzentrieren. Die NS-Zeit muss gut im gesellschaftlichen Gedächtnis verankert sein, aber das Wissen um die eigene Geschichte darf sich nicht darauf beschränken. Unser Blick müsste breiter sein und mehr historische Tiefe bekommen.
Ihr Verband hat auf dem Historikertag eine Resolution verabschiedet, die sich klar gegen Rechtspopulismus aussprach. Sie haben dafür viel Kritik einstecken müssen – der Vorwurf lautete, der Verband mische sich in die Tagespolitik ein. War die Resolution ein Fehler?
Schlotheuber Auf keinen Fall. Es ist ja eine lllusion, dass Geschichte nicht politisch wäre. Die eigene Geschichtsdeutung steht immer in Beziehung zur Gegenwart und damit auch zum aktuellen politischen Geschehen. Diese Beziehung neu zu definieren, ist eine Aufgabe, vor die sich jede Generation von Historikern gestellt sieht. Die Geschichtswissenschaft ist dann eine eigenständige und wichtige unabhängige Stimme innerhalb der Gesellschaft. Wir können und wollen beitragen zu einer tiefergehenden Analyse unserer Zeit.
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RP ONLINE, 24.12.2024