Maskenpflicht in NRW
Maskenpflicht in NRW
Geschrieben von Philipp Holstein,
mit Masken-Selfies von Prominenten und unseren Lesern
Einige Gedanken während der ersten Tage verordneten Maskentragens: Ob man reich würde, wenn man jetzt Masken mit aufgedrucktem Ortsschild der Stadt Dortmund verkaufte? Sollte man nicht unbedingt mal ein Lied mit dem Titel „Aerosole mio” schreiben? Und: Was macht das mit einem, wenn man auf Dauer ständig sich selbst einatmet?
Eine Woche Maskenpflicht ist vorüber, eine Woche Vermummungsgebot, und es fühlt sich immer noch ungewohnt an. Beim Stichwort Maske denkt man nun jedenfalls nicht mehr zuerst an Karneval. In Heinsberg trug zwar ausgerechnet eine Karnevalsveranstaltung dazu bei, dass wir heute maskiert einkaufen gehen müssen. Doch die Maske hat keinen Spaßeffekt mehr, sie ist vielmehr Symbol einer außergewöhnlichen Situation, Merkmal einer Krise, sichtbares Zeichen einer unsichtbaren Bedrohung. Ihr Vorkommen im Stadtbild sagt: Wir sind in anderer Weise gefährdet als sonst. Es ist etwas in der Luft, das uns krumm kommen kann. Der Soziologe Rainer Paris nennt das eine „dramatische Umpolung”: Wir wurden aus unserem gewohnten Alltag gerissen. Die Maske kennzeichnet jeden Menschen als potenziellen Virenherd. Wir halten Distanz.
Die älteste Maskendarstellung ist 11.000 Jahre alt, und ursprünglich dienten Masken als Verkörperung von Geistern und Toten. Aber es ist nicht sehr erhellend, die Kulturgeschichte der Maske zu lesen. Die Maske, um die es bei uns geht, ist nämlich keine, die der Anverwandlung oder dem Rollenspiel dient. Sondern eine zum Schutz. Ihre Tradition reicht zurück zu den Gasmasken des Ersten Weltkriegs und den Pestarztmasken, die im 17. Jahrhundert getragen wurden. Nicht im deutschsprachigen Raum allerdings, sondern in Frankreich und Italien, wie man auf der Homepage des Deutschen Medizinhistorischen Museums Ingolstadt lesen kann. Ärzte schützten sich damit gegen Übertragung. In die langen Schnäbel der unheimlichen Masken stopften sie Zimt und Nelken, weil man meinte, mit Wohlgeruch dem Pesthauch entgegenwirken zu können.
Was uns Heutigen das Masketragen so mühsam macht, ist außer der Tatsache, dass sie uns ständig an die Gefahr erinnert, die Veränderung des Gesichts. Man sieht gar nicht mehr, wie es dem anderen geht. Man merkt nicht, ob er auf einen Witz reagiert oder indigniert ist. Man kann nicht mehr zwischen den Zeilen lesen: Das Alphabet des mimischen Ausdrucks ist verschüttet. Wir fühlen uns in unserer Kommunikation beschnitten, auf eigenartige Weise sprachlos und gehemmt. Wie flirtet man mit Maske? Wie ist man nett? Wie Individuum? Wie Mensch?
Wissenschaftler der Uni Glasgow fanden heraus, dass sich Menschen aus asiatischen Ländern bei anderen ausschließlich auf die Augen konzentrieren, wenn sie wissen wollen, wie die sich fühlen. Für Menschen aus westlichen Ländern indes sei genau dafür der Mund des Gegenübers mindestens ebenso wichtig. Was bedeutet das in der Corona-Krise? Wir sehen vom anderen schließlich nurmehr die Augen. Von Punkt, Punkt, Komma, Strich bleibt nicht mehr viel. Bloß noch: Punkt, Punkt. Im Grunde müssten wir jetzt erstmal unsere Emojis anders tippen. Lachen war mal :) und ist nun zu ^.^ geworden.
Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho hat die Gesellschaft vor Corona als „faciale Gesellschaft” bezeichnet. Das Gesicht stehe stets im Mittelpunkt, in der Werbung, in den Medien, schreibt er in seiner Monographie „Vorbilder”. Kein anderes Körperteil könne auf so kleinem Raum so viel mitteilen. Die Redensart „das Gesicht verlieren” bezeichnet denn auch etwas sehr Schlimmes: Man büßt an Glaubwürdigkeit, Ansehen und Respekt ein. „Eyes without a face / Got no human grace”, sang Billy Idol 1983. Das Vermummungsverbot bei Demonstrationen gilt ja deshalb, weil man die Identität eines Menschen nicht ausmachen kann, wenn nur die Augen zu sehen sind. Und die Uni Kiel begründete das Verbot von Burkas und Niqabs in ihren Vorlesungen damit, dass durch die Verengung des Gesichts auf den Augenschlitz „die offene Kommunikation” nicht möglich sei, weil die „nicht nur auf dem gesprochenen Wort, sondern auch auf Mimik und Gestik” beruhe. Ein Gesichtsschleier behindere diese offene Kommunikation, hieß es.
Wenn man es pessimistisch ausdrücken möchte, könnte man sagen: Wir Maskenträger haben nun buchstäblich alle unser Gesicht verloren, und wir leiden sozusagen an verordneter Prosopagnosie – so heißt die krankhafte Unfähigkeit, Gesichter zu erkennen. Wir wollen es hier aber positiv wenden. Also sagen wir: Die Augen sind das neue Gesicht.
„Zwei zitternde Druckstellen” hat Roland Barthes die Augen von Greta Garbo genannt. Das ist ziemlich schön. Vielleicht müssen wir nun einfach neu sehen lernen. Mit neuen Augen in neue Augen. Sehen wie die Kinder. Im Bindungsverhalten von Säuglingen geht es passend dazu auch gar nicht so sehr um ganze Gesichter, wie man weiß. Sondern um die Augen. Sie sind in diesem frühen Stadium der entscheidende Aspekt eines Gesichts. Sie senden die Mindestinformationen, um beim Säugling etwa ein Lachen auszulösen. In der Etymologie ist das Ge-Sicht das, was vom Betrachter ge-sehen wird. Nun sind halt die Augen das Gesicht. In einem Zwinkern kann eine Welt liegen. Muss man nur hinsehen.
Neu sehen lernen heißt auch: neu erkennen lernen. „Ein Auge winkt / Die Seele singt”, sagt Tucholsky. Und um dieses Winken überhaupt wahrnehmen zu können, bedarf es einer Umstellung der Alltagsroutine. Die Smartphones mit Gesichtserkennung, die gestern noch als der letzte Schrei galten, erkennen das Individuelle in den Augen übrigens nicht. Man muss die Maske kurz abnehmen, wenn man mit ihnen bezahlen möchte. Menschen besitzen den Maschinen gegenüber den Vorteil, dass sie Emotionen haben. Den gilt es nun auszuspielen.
„Wir müssen nun mehr Empathie aufwenden, um die Absichten des anderen herauszufinden”, sagt Rainer Paris. Das sei umso schwieriger, als sich manche durch die Maske auf sich selbst zurückgeworfen fühlten. Man hört sich ja neuerdings selbst atmen wie Michael Myers, die Figur in dem Horrorklassiker „Halloween”. Rainer Paris sagt: „Das Verhältnis von Körpersein und Körperhaben ist dadurch verschoben.” Ergebnis: Wir fühlen uns unwohl, beklommen. Was man tun kann? Den sozialen Gehorsam individuell differenzieren, sagt Paris. Den einen gelingt das, indem sie sich eigene Masken schneidern, individuell verfeinert, gemustert, geblümt. Den anderen, indem sie die Sache mit Humor angehen. Aerosole mio also.
Jean-Paul Sartre begriff das Menschsein als „Vom-anderen-gesehen-Werden”. Wir müssen wieder lernen, einander in die Augen zu schauen. Vielleicht sogar, zu tief in die Augen eines anderen zu schauen. Wir müssen das Gesicht wahren, obwohl ein Balken aus Baumwolle große Teile davon bedeckt. Wer schaut, bestätigt die Identität des anderen. Wer jemandem in die Augen sieht, würdigt ihn eines Blickes. Das bedeutet: Er anerkennt ihn als Menschen.
Corona-Knigge, Regel Nummer eins: An den Augen sollt ihr euch erkennen.
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RP ONLINE, 20.11.2024