Datenreportage
Datenreportage
Geschrieben von Julian Budjan und Viktor Marinov
Immer mehr Menschen besitzen eine Waffe – in Deutschland und in Nordrhein-Westfalen. Rund 66.500 Schusswaffen und Waffenteile aus NRW wurden vergangenes Jahr im Nationalen Waffenregister des Bundesinnenministeriums neu registriert. Damit steigt die Zahl der zugelassenen Gewehre und Pistolen in NRW auf über eine Million, wie eine Anfrage unserer Redaktion ergeben hat. Das sind fast ein Fünftel aller Schusswaffen in der Bundesrepublik, nur in Bayern sind es mehr.
Doch wer nutzt diese Waffen? Wieso bewaffnen sich Menschen? Und wie gefährlich ist das? In Zusammenarbeit mit der Universität Leipzig haben wir nach Antworten auf diese Fragen gesucht. Dafür haben wir Daten recherchiert und ausgewertet, und wir haben mit Waffenbesitzern gesprochen: mit Jägern, Schützen, Händlern und Polizisten.
Einige Fakten zu Beginn: Anfang 2020 hatten in NRW mehr als 83.500 Jäger, 42.000 Sportschützen sowie knapp 48.000 Altbesitzer und Erben die Erlaubnis, eine Waffe zu besitzen. Ausgestellt werden diese Berechtigungen von einer der 47 Waffenbehörden des Landes. Das geht aus einer Landtagsanfrage vom vergangenen Sommer hervor. Gemeinsam kommen diese Gruppen auf 313.000 Waffenbesitzkarten der insgesamt 507.000 Waffenerlaubnisse in NRW. In den vergangenen fünf Jahren ist diese Zahl um 16 Prozent gestiegen. Die meisten Schusswaffen pro Kopf gibt es in den Jagdhochburgen und ländlichen Gebieten: Im Sauerland, Münsterland, Bergischen Land oder der Eifel.
Immer häufiger aber bewaffnen sich Menschen auch, weil sie sich bedroht fühlen. Das zeigt der starke Anstieg bei den Kleinen Waffenscheinen, mit dem man Gas-, Schreck- und Signalwaffen in der Öffentlichkeit führen darf. Waren es 2016 landesweit noch 121.500, sind es mittlerweile fast 175.000 – 44 Prozent mehr. Die Polizeibehörden führen diese Entwicklung unter anderem auf die Nachwehen der Kölner Silvesternacht 2015 zurück, als es zu sexuellen Übergriffen durch junge Männer mit Migrationshintergrund kam. Die meisten kleinen Waffenscheine wurden seitdem in Bonn, im Ruhrgebiet, im Siegerland und dem Kreis Wesel beantragt.
Im waffenstarken Hochsauerlandkreis hat ein Sprecher der Polizei eine klare Meinung zu dieser Entwicklung: „Waffen schaffen keine Sicherheit! Schlimmstenfalls führen sie zu noch größerer Aggressivität und Eskalation.“
Tatsächlich steigt auch die Zahl der Straftaten mit Schusswaffen kontinuierlich an. Wurden 2016 noch 581 Straftaten mit unregistrierten Waffen in NRW begangen, waren es 2019 schon 938, die meisten in stark bevölkerten Gebieten. Im gleichen Zeitraum gingen auch die Straftaten mit zugelassenen Waffen in die Höhe: von 113 auf 259 im Jahr 2019. In über 2200 Fällen seit 2016 sind Waffe oder Täter unbekannt, in über 700 Fällen machten die Polizeibehörden keine Angaben.
Waffen erfreuen sich zunehmender Beliebtheit – allen Gefahren zum Trotz. Um dieser Entwicklung auf den Grund zu gehen, haben wir uns mit Menschen getroffen, die in der Welt der Waffen zu Hause sind.
Visier, Schalldämpfer, Magazin, Nachladesystem, Abzug. Per Laptop-Kamera präsentiert Max Busenius seine Waffe. Ein Repetiergewehr. Jede Komponente kann er fachmännisch erklären.
Busenius kommt aus dem Sauerland. Er ist einer von zahlreichen „Jagdfluencern”, die auf Instagram die Öffentlichkeit an ihrem Hobby – sie selbst würden es als Lebensgefühl bezeichnen – teilhaben lassen. Fast 19.000 Menschen folgen dem 25-Jährigen. Bereits mit 16 hat er seinen Jagdschein gemacht, viel über Tierarten gelernt, über Wald und Natur, Regeln für und den Umgang mit Waffen. Kosten: rund 2500 Euro. Voraussetzung: ein tadelloses Führungszeugnis.
Die meisten Menschen hinter den reichweitenstarken Accounts sind noch jünger als Busenius. „Als ich vor vier Jahren damit angefangen habe, war ich einer der wenigen. Mittlerweile ist der Hang zur Inszenierung größer und es gibt unzählige Accounts“, sagt er. Die Szene hat sich rasant entwickelt, ein eigenes Netzwerk junger Jäger ist entstanden. Auch immer mehr junge Frauen sind dabei.
Heute verdient der Student als „Jagdfluencer“ sogar etwas Geld. Wenn Busenius seine Waffe auf Instagram in Nahaufnahme zeigt, dann nicht, weil er findet, dass das zur heroischen Inszenierung als Jäger passe. Sondern, weil einer seiner Werbepartner Munition herstellt. Das Gewehr ist bei der Jagd dennoch allgegenwärtig.
„Eine Waffe ist für mich nichts Negatives. Sie gehört einfach zwangsläufig dazu. Sie ist für mich als Jäger das Werkzeug zum Töten eines Wildtieres“
, sagt Busenius. Der Abschuss selbst ist nur ein Teil dessen, was für den angehenden Förster die Jagd ausmacht. Der andere Teil besteht darin, die Natur aktiv wahrzunehmen, wenn er Stunden auf dem Hochsitz ausharre. „Das hat fast etwas Meditatives”, sagt er. „Das Schießen an sich gibt mir nichts.“
Auf Instagram trägt Busenius seine Hingabe zur Jagd im Namen, nennt sich „The Passionist“. Auf seinem Account sind Bilder zu sehen, wie er mit Gewehr neben blutigen Wildschweinen und Rehen kniet, ihre Augen erloschen. Andere Aufnahmen zeigen, wie goldenes Licht durch die Wipfel des Herbstwalds dringt. Mal berichtet er von der Jagd, mal erklärt er das Ökosystem Wald. Auf YouTube zeigt er die Tiere aus nächster Nähe und beschreibt begeistert Verhalten und Merkmale – dann filmt Busenius aber auch, wie er jene Tiere tötet. Es ist ein Hobby der Gegensätze.
Jäger haben in Teilen der Gesellschaft einen schlechten Ruf: Tierschützer werfen ihnen vor, Tieren gewaltsam das Leben zu nehmen, andere halten sie für Waffen-Narren, die sich Hirschgeweihe an die Wand hängen.
Die junge Jäger-Generation versucht, mit alten Vorurteilen zu brechen. Busenius sagt, ihr gehe es weniger darum, sich zu beweisen oder die Jagd als eine Art Sport zu betreiben. „Vielen ist es sehr wichtig, sich bewusst zu ernähren. Sie wollen wissen, wo ihr Fleisch herkommt und keine Massentierhaltung unterstützen“, sagt der Sauerländer. „Ich selbst wüsste nicht, wann ich zuletzt Fleisch im Supermarkt gekauft habe.“ Er glaubt zu bemerken, dass die Nachfrage nach Wildfleisch steige. Und das sei gut so: „Es gibt kein Fleisch, das so klimaneutral und biologisch rein ist wie Wildfleisch. Weil es keine besseren Lebensbedingungen als die natürlichen gibt.“
So geht es auch Fee Brauwers. Bei der 24-Jährigen aus Geldern kommt nur selbst erjagtes Fleisch auf den Teller. Sie nennt diese Art der Ernährung “wilgan”. Auf Instagram hat sie 16.000 Follower. Brauwers sieht sich als „Waldbloggerin“, weil sie keine Bilder mehr von der Jagd postet. Sie findet, dass die Wertschätzung für fleischhaltige Lebensmittel durch billiges Discounterfleisch verloren gegangen sei: „Man muss sich darüber bewusst sein, dass Fleisch nicht in Plastik geboren wird und für mein Steak ein Tier gestorben ist“, sagt sie. Die Tochter eines Schlachters verwertet die erlegten Tiere selbst. Das bedeutet: kühlen, Innereien und Haut entfernen, waschen. Danach bereitet sie Gerichte wie Fasanen-Nuggets oder Wildschweindöner zu.
Seit der Wiedervereinigung ist die Zahl der deutschen Jägerinnen und Jäger um 27 Prozent auf fast 400.000 Menschen gestiegen. Mehr als 92.000 davon kommen aus NRW, vor fünf Jahren waren es noch rund 85.000. Dass junge Menschen sich zunehmend aus moralischen Gründen und weniger aus Traditionsbewusstsein dafür entscheiden, Jäger zu werden, lässt die alte Männerdomäne wackeln. Rund ein Drittel aller Kursteilnehmer für den Erwerb des Jagdscheins sind mittlerweile Frauen, heißt es vom Landesjagdverband (LJV). Als Max Busenius noch ein Kind war, so erinnert er sich, sei seine Mutter als Jägerin eine Ausnahme gewesen.
Von den Bewohnern des Waldes fasziniert und trotzdem fähig zu sein, ihnen das Leben zu nehmen – schließt sich das nicht aus? Nein, sagt Busenius. Er habe das Gleichgewicht der Natur im Blick. Rehe und Wildschweine vermehrten sich seit Jahren rapide, weil ihnen die Fressfeinde fehlten. Die Folge: die Tiere torpedieren die Aufforstung der Wälder, indem sie neu gepflanzte Bäume abfressen, sagt er. Auch die Bestände der Waschbären müssten immer wieder ausgedünnt werden, weil diese Amphibien und am Boden brütende Vogelarten bedrohten. Abschusspläne der Jagdbehörden geben deshalb vor, wie viele Tiere von welcher Art und zu welcher Jahreszeit geschossen werden sollen.
Für Fee Brauwers ist das Jagen von Wild die schonendste Methode, Tiere zu töten. „Sie kommen auf die Wiese, fressen und sind happy, und auf einmal ist das Licht aus. Sie mussten nicht ihr ganzes Leben hinter einem Zaun verbringen.“ Nach dem Abschuss, sagt Brauwers, bleibt sie gedanklich kurz bei dem ausgelöschten Leben. „Dann ist es immer ganz leise in meinem Kopf.”
a) Volljährigkeit
Wer eine Waffe haben möchte, muss mindestens 18 Jahre alt sein.
b) Zuverlässigkeit
Bevor einer Person ein Waffenerlaubnis ausgestellt wird, überprüft die Waffenbehörde das Führungszeugnis, insbesondere darauf, ob sie in der Vergangenheit schon mal im Umgang mit Waffen auffällig geworden ist. Hat die Person Straftaten begangen, gilt sie als unzuverlässig.
c) Persönliche Eignung
Eine Person gilt dann als ungeeignet für den Besitz einer Waffe, wenn es Hinweise darauf gibt, dass sie suchtkrank, psychisch labil ist, andere oder sich gefährden könnte. Im Zweifel muss die Waffenbehörde ein fachpsychologisches Gutachten verlangen, das die körperliche und geistige Eignung bescheinigt. In der Regel wird das von Schützen unter 25 Jahren verlangt.
d) Nachweis der Sachkunde
Bei Jägern ist das der Jagdschein, Schützen müssen an einem entsprechenden Lehrgang teilgenommen haben.
e) Nachweis eines Bedürfnisses
Bei Jägern ist das die Jagd, bei Schützen die Mitgliedschaft im Verein. Ein Bedürfnis ist auch der Selbstschutz. Hierbei muss aber nachgewiesen werden, dass das eigene Leben akut bedroht ist.
f) Verbandsbescheinigung
Schützen brauchen eine Bescheinigung des Verbandes, müssen mindestens zwölf Monate Mitglied in einem Verein sein und regelmäßig am Schießtraining teilnehmen: mindestens 18 Mal über ein Jahr.
Wenn ein Polizist in Deutschland schießt, dann mit höchster Wahrscheinlichkeit auf ein Reh oder einen Hund. In mehr als 99 von 100 Fällen gelten die Schüsse von Polizisten kranken oder verletzten Tieren, anders als der „Tatort” und andere Krimiserien suggerieren. Dennoch: 2019 schossen Polizisten 62 Mal auf Menschen, 15 von ihnen starben. Jeder vierte Fall endete also tödlich. Die Verantwortung der Beamten im Umgang mit ihrer Dienstwaffe ist auch die Verantwortung für Menschenleben.
Es gehört zum beruflichen Alltag von Sven Heidermann, sich über diese Verantwortung Gedanken zu machen. Der Polizist ist aktuell Einsatztrainer bei der Polizei in Duisburg und bringt seinen Kolleginnen und Kollegen unter anderem bei, wie sie taktisch mit ihren Waffen umgehen. „Ich musste, Gott sei Dank, noch nie auf jemanden schießen“, sagt Heidermann. Dabei war er lange Zeit im Außendienst, elf Jahre ging er in Köln auf Streife. Ganz ohne den Einsatz seiner Schusswaffe verlief diese Zeit allerdings nicht. „Wenn eine Situation eskaliert, muss man präventiv eingreifen, zur Not auch mit der Pistole drohen.“ An einen Fall erinnert sich der Polizist noch ziemlich gut. Bei einer Schlägerei richtete einer der Beteiligten eine zerbrochene Flasche auf den anderen. Heidermann mischte sich ein, zog die Pistole und befahl den beiden, voneinander abzulassen. „Das hätte tödlich enden können.“ Der Polizist meint damit eigentlich die Schlägerei selbst, eine Glasflasche kann genauso gefährlich wie ein Messer sein. Aber auch ein Schuss aus der Waffe des Polizisten hätte tödlich enden können. Nach seiner Drohung löste sich der Streit auf, Heidermann musste nicht schießen.
Was wie Polizeialltag klingt, löst in Heidermann einen Prozess aus, der nur Millisekunden dauert und zugleich mehrere Überlegungen aufeinanderprallen lässt. „Der Moment, in dem man die Pistole zieht, vergeht wie im Zeitraffer“, sagt der Polizist.
„Zunächst versucht man, sich auf die Ausbildung zu besinnen, denkt taktisch: Was macht der Andere, wie bewegt er sich, will er jemanden verletzen?“ Dazu, sagt Heidermann, kommen die rechtlichen Gedanken. „Darf ich das überhaupt? Stehe ich rechtlich auf der sicheren Seite?“ Jeder Polizist weiß, welche Konsequenzen ein unrechtmäßiger Gebrauch der Schusswaffe haben könne: tiefe private Einschnitte, die Suspendierung vom Dienst oder gar die Entlassung.
Und dann ist da noch die Verantwortung für das Leben anderer: “Schlimmstenfalls tötet man einen Menschen“, sagt Heidermann. Dieser Gedanke sei immer im Kopf: “Verletze ich jemanden? Das ist auch ein Schatten, über den man im Zweifel springen muss.“ Ein Fehler kann einen lange begleiten. “Es kann Jahre dauern, bis man sich davon erholt, auf einen Menschen geschossen zu haben.“
Wenn Heidermann so spricht, könnte man auf die Idee kommen, dass er lieber ganz auf die Schusswaffe im Dienst verzichten würde. Mitten im Gespräch entschuldigt er sich, sagt, dass er nicht nur negativ über das Thema sprechen wolle. Die Waffe, sagt Heidermann, sei ein Teil von ihm als Polizeibeamter:
„Die Pistole gehört zu meiner Ausrüstung. So wie ein Kugelschreiber, ein Pfefferspray oder die kugelsichere Weste. Die Waffe ist aber auch das letzte Mittel, wenn die Situation eskaliert.“
Wer über Schusswaffen sprechen will, kommt an den Sportschützen nicht vorbei. 1,4 Millionen Mitglieder hat allein ihr größter Verband, der Deutsche Schützenbund. Anders als für Jäger oder Polizisten ist für Schützen das Schießen selbst ein Hobby – eines, für das sie sich häufig rechtfertigen müssen. An einem Februarmittag treffen sich zwei von ihnen in Hattingen, südlich von Essen, nur einige Schritte entfernt von der Ruhr. Frank Stock und Manfred Dehnen kommen in dem kleinen Waldstück zusammen, das einen Schießstand beherbergt. Eigentlich ist er geschlossen, einer der beiden Schützen muss beim Eintreten erst einmal die heruntergefallenen Blätter wegfegen. Aber die Schützen sind nicht gekommen, um zu schießen. Sie wollen erklären, warum ihr Hobby nichts mit “Ballern” zu tun hat.
In den vergangenen Jahren hat es immer wieder Anlässe für Kritik am Sportschießen gegeben. Der rechtsextreme Terrorist in Hanau, der vor einem Jahr neun Menschen erschoss, trainierte regelmäßig in einem Frankfurter Schützenverein. Auch der Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke war in einem solchen Verein aktiv. Er soll als Gast bei einer weiteren Schützengesellschaft mit scharfen Waffen trainiert haben.
Frank Stock will sein Hobby gegen die Assoziation mit solchen Taten verteidigen. Stock ist Mitglied bei den Sportschützen Isenberg und kümmert sich beim NRW-Landesverband des Bundes Deutscher Sportschützen (BDS) um die Öffentlichkeitsarbeit. Er ist es gewohnt, die Faszination fürs Schießen zu erklären – und es von Gewalt abzugrenzen. „Es geht darum, eine ein paar Gramm leichte Bleikugel präzise und technisch wiederholbar an eine Stelle in die Pappe zu kriegen“, sagt Stock. Er vergleicht das Sportschießen mit Kampfsport.
Entscheidende Gemeinsamkeit: Wer vernünftig Sportschießen betreibt, ist genauso müde wie nach einem langen Kampf. „Das kann meditativ sein“, sagt er. Entscheidender Unterschied: „Kampfsport ist näher an echter Gewalt.“ Beim Boxen oder beim Fechten müsse man den Gegner treffen, beim Jagen auf Tiere schießen. Er respektiere diese Beschäftigungen, sagt Stock, auch wenn er sie selbst nicht möge. Die gleiche Toleranz fordert er auch für Sportschützen.
Beim Treffen am Schießstand hat Stock seine Pistole dabei. Er hat sie mitgebracht, um zu verdeutlichen, wie penibel Sportschützen auf Sicherheit achten. “Fühlen Sie sich von mir bedroht?”, fragt er mehrfach im Laufe des Gesprächs. Die Pistole ist nicht geladen, sie ist in einer Tasche mit einem Kombinationsschloss gesichert. Stock achtet trotzdem darauf, dass der Lauf stets gegen die Wand zeigt und nicht in Richtung eines Menschen. Wenn er sie am Stand rausholt, um zu schießen, überprüft er mehrmals, ob das Magazin wirklich leer und die Pistole nicht geladen ist.
„Von einem Sportschützen geht keinerlei Gefahr aus“, sagt Stock. Er sagt aber auch: „Es gibt überall schwarze Schafe.“ Die Morde in Hanau und Kassel zeigen: Schwarze Schafe mit Schusswaffen können großes Unheil anrichten.
Die Schützen wissen das, und sie tun vieles, um solche Fälle zu verhindern. Einer, der bei den Isenberger Schützen dafür Verantwortung trägt, ist Manfred Dehnen. Er ist Vorsitzender des Vereins und Ausbildungsleiter im Landesverband. Wer im Schießstand an der Ruhr Teil des Vereins werden will, muss ihn überzeugen. „Man merkt sofort, wenn jemand zu uns kommt, weil er oder sie eine Waffe haben will.” Wer schon beim ersten Gespräch nachfragt, wann er eine eigene Waffe bekommt, dem zeigt Dehnen die Tür.
Seit 2015 meldete der Deutsche Schützenbund konstante Mitgliederzahlen, der Abwärtstrend der Vorjahre scheint vorerst gestoppt. Es gibt für die Mitgliedschaft eine Reihe gesetzlicher Kriterien: Ein Waffenbesitzer muss “zuverlässig” sein, also ein reines Führungszeugnis vorweisen können. Er muss für den Gebrauch der Waffe persönlich geeignet sein, Alkoholabhängigkeit oder eine psychische Erkrankung sind Ausschlusskriterien. Seit 2019 müssen Waffenbehörden auch beim Verfassungsschutz nachfragen, ob der potenzielle Waffenbesitzer dort bekannt ist.
Eine Waffe bekommen Sportschützen erst nach einem Jahr Vereinsmitgliedschaft. Sie müssen 18 Mal im Jahr trainieren, werden stets beobachtet, am Ende wird die Sachkunde geprüft. Wer in dieser Zeit etwas tut oder sagt, was dem Verein missfällt oder gegen Regeln verstößt, kann sofort rausgeworfen werden. Oder wie es – etwas netter – auf der Webseite der Isenberger Schützen formuliert ist: „Für die Dauer von zwölf Monaten werden Sie zur Probe aufgenommen, wobei jede Partei die Möglichkeit hat, das Vertragsverhältnis jederzeit, fristlos zu kündigen. Diese Zeit dient dem gegenseitigen Kennenlernen.“
„Der Waffenbesitzer ist die meistüberwachte Person im deutschen Staat.“
, sagt Stock. Für viele sei die Waffe schon an sich etwas Böses, sagt Manfred Dehnen. „Sie wird aber erst böse, wenn der Mensch dahinter böse ist.” Grenzen soll es trotzdem geben, meint Dehnen. „Was wir alle fatal fänden, wäre, wenn jeder mit einer Waffe offen rumlaufen würde. Solche Zustände wollen wir nicht haben.“
Was die Schützen an diesem Nachmittag am geschlossenen Schießstand sagen, lässt sich salopp in etwa so zusammenfassen: Wir wollen doch nur unserem Hobby nachgehen. Es gibt schon genug Kontrollen, und das ist auch gut so. Aber mehr brauchen wir nicht.
Eine Stunde vor Ladenschluss betritt ein junger Mann, der gerade die Volljährigkeit erreicht haben dürfte, das Waffengeschäft im Zentrum von Hagen. Der junge Mann weiß genau, was er will. Inhaber Willi Becker läuft zur Ladentheke und nimmt eine “Haenel Jäger 10” aus der Vitrine – eine Repetierbüchse, die für den Jagdgebrauch gefertigt wurde. Statt des Kalibers 30-06 wünscht der Kunde das kleinere 8x57, ohne optisches Visier, ohne edlen Holzschaft. 1100 Euro – Hand drauf, zumindest symbolisch. Sobald der junge Jäger wieder weg ist, greift Becker zum Telefon: Schnell noch die Waffe beim Großhändler bestellen.
Seit einigen Jahren kommt es immer häufiger vor, dass junge Jäger oder Schützen bei Willi Becker eine Waffe kaufen. „Mit Ausnahme des Corona-Jahres 2020 ist mein Umsatz in den vergangenen zehn Jahren stetig angewachsen”, sagt er.
Den Waffenladen führt Willi Becker bereits in dritter Generation. Seine Großeltern bauten 1913 in Hagen ihr eigenes Geschäft auf. Dann kam der Erste Weltkrieg und der Großvater kehrte nicht wieder heim. 1935 übernahm Willi Beckers Vater den Laden von seiner Großmutter. Als 1945 die Amerikaner kamen, warfen seine Eltern alle Waffen in die Ennepe, aus Angst, getötet zu werden. So erzählt es Becker.
Er selbst, 1944 geboren, wurde Verkäufer in der Stahlindustrie. Als aber innerhalb von zwei Jahren Vater und Mutter starben, entschied er sich, sein Familienerbe anzutreten. Das war 1979. Seither sind Waffen sein Alltag. „Bereut habe ich das nicht. Auch wenn es natürlich mehr Arbeit ist und ich in meinem Alter schon längst pensioniert wäre“, sagt er.
Sein Vater lehrte ihn einst das Büchsenmacherhandwerk. Schon als 14-Jähriger habe er nach den Schularbeiten Waffen reparieren müssen. Das macht er auch heute noch.
Neben dem Verkaufsraum und dem Büro, in dem sich Munitionsschachteln stapeln, befindet sich eine etwas chaotische Werkstatt. Eine Werkbank ist mit Waffenteilen und Werkzeug beladen, auf einem Regal lehnen einige Büchsen, die noch auf Vordermann gebracht werden müssen.
Sein Verhältnis zu Waffen beschreibt Becker so: „Waffen sind ein großes, physikalisches System mit zielgerichteter Energie ähnlich wie ein Auto. Hochkomplex, hochkompliziert und hochgenau. Sie sind für mich eine Leidenschaft.“
Heute verkauft Becker seine Waffen nicht mehr nur an die Menschen, die persönlich in seinen Laden kommen. Seit er vor fünf Jahren seinen Online-Shop eröffnet hat, treffen Bestellungen von überall ein. Er beliefert auch regelmäßig Kunden in Osnabrück, Bielefeld oder Bayern; „eigentlich in der ganzen Bundesrepublik“, sagt Becker. Auch aus Ungarn habe er schon Bestellungen erhalten. In der Corona-Zeit macht dieser Onlinehandel bis zu zwei Drittel seines Geschäfts aus. Auch Gebrauchtwaffen verkauft er über einen speziellen Waffen-Online-Marktplatz, und dann ist da noch der Schießstand in den Bergen, den er seit Jahrzehnten pachtet und an Vereine vermietet. Und auch an Kunden, die die erworbenen Waffen ausprobieren wollen.
Eines geht Waffenhändlern wie Becker auf die Nerven: Die immer strenger werdenden Regeln. Denn sie stellen die Kunden vor Hürden und sind schlecht für das Geschäft, so sieht Becker das. „Man darf in Deutschland nur als Jäger, Schütze oder zertifizierter Sammler eine Waffe erwerben, selbst dann nicht, wenn man bei der Bundeswehr war“, sagt er. Dann schwelgt Becker in seiner Jugendzeit, als man die Büchse noch vom Garderobenhaken greifen und über die Schulter legen konnte. Heute müssen Munition und Waffe getrennt in einem speziellen Waffenschrank verstaut werden. Auch der Transport, etwa zum Jagdrevier oder Schießstand, muss sicher sein: Die Waffe entladen in einen Koffer gepackt werden.
Dass der Umgang mit Waffen heute stärker reglementiert wird, hat seine Gründe. Viel zu oft schon kam es zu Unfällen durch falsche Handhabe oder gerieten Waffen in die Hände von Extremisten. Erst im vergangenen Jahr verschärfte die Bundesregierung deshalb das Waffenrecht, indem sie die Meldepflicht an das Nationale Waffenregister ausbaute. Wurden Waffen früher lediglich von den knapp 550 lokalen Waffenbehörden in Deutschland erfasst, werden sie seit 2013 in jener bundesweiten Datei gespeichert. Eine EU-Vorgabe. Seit 2020 gewährleistet das Nationale Waffenregister nun, dass jede Waffe im Land über ihren gesamten Lebenszyklus nachverfolgbar ist. Sie wird immer einem Besitzer zugeordnet und jede Änderung an ihr muss erneut gemeldet werden. Becker muss deshalb nun mehr Zeit am Computer verbringen. Er erklärt das so: „Jedes Waffenteil wird bei der Herstellung mit einer Nummer codiert, zusätzlich brauchen der Hersteller, ich als Waffenhändler und der Kunde zwei Identifizierungsnummern: jeweils eine Personen-ID und eine Erlaubnis-ID. Sonst kann nichts übertragen und die Waffe nicht rausgegeben werden.”
Für Politiker ist Waffenbesitz ein toxisches Thema. Wenige Ereignisse haben das so eindrucksvoll gezeigt wie der Fall eines Bürgermeisters aus NRW, der einen Waffenschein beantragen wollte – und nach einer hitzigen öffentlichen Debatte aufgab.
Am 7. Januar 2020 meldet die Rheinische Post auf ihrer Titelseite: „Bürgermeister will sich bewaffnen“. Zunächst berichten Medien anonymisiert über den Fall. Dann macht „Die Rechte“, eine vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestufte Kleinstpartei, den Namen des Bürgermeisters öffentlich. Es geht um Christoph Landscheidt, Stadtoberhaupt von Kamp-Lintfort, eine kleine Stadt am Niederrhein, kaum 40.000 Einwohner.
Christoph Landscheidt hatte einen Großen Waffenschein beantragt und nach einer ersten Absage vor dem Gericht dafür geklagt. Nicht aus Spaß. Nicht, weil er einem Hobby nachgehen wollte. Sondern weil er seine Familie bedroht sah. In einem Statement schreibt er später, es habe „konkrete Situationen in meinem privaten und beruflichen Umfeld gegeben, in denen polizeiliche Hilfe nicht rechtzeitig erreichbar gewesen wäre.“ In solchen „außergewöhnlichen Notwehrsituationen“ wolle er sich und seine Familie schützen.
2019 – im Wahlkampf zur Europawahl – hatte Landscheidt Plakate der Partei „Die Rechte“ abhängen lassen. „Seitdem werde ich massiv aus der rechten Szene bedroht“, schrieb der Bürgermeister in einem persönlichen Statement, als seine Gerichtsklage öffentlich bekannt wurde. In Kamp-Lintfort wohnen Neonazis, die ihre Gesinnung offen zur Schau stellen. Einer von ihnen hat ein großes Grundstück im Stadtteil Hoerstgen, sein Haus ist von einem Zaun umgeben, das in Schwarz-Weiß-Rot gestrichen ist, den Farben der deutschen Reichsflagge.
Der Bürgermeister einer niederrheinischen Mittelstadt wird nach den ersten Schlagzeilen schnell zu einem der wichtigsten Themen des Landes. Bundesweit schreiben Medien über ihn, der Bundesinnenminister äußert sich, Landscheidt bekommt Personenschutz. In Kamp-Lintfort organisiert „Die Rechte“ eine Demonstration. Es kommen etwa zwei Dutzend Menschen, sie hissen Reichsflaggen, auf einem Poster sind die Worte zu lesen: „Volksgericht statt Waffenschein.“ Auf einer Gegendemonstration solidarisieren sich 1000 Menschen mit dem Bürgermeister.
Für Landscheidt wird das alles zu viel. Er zieht die Reißleine, nimmt seine Klage zurück und veröffentlicht ein Statement. „Auch, wenn ich mir gewünscht hätte, dass die beteiligten Institutionen und die Presse – wie es das Gesetz in diesem Ausnahmefall vorsieht – meine Persönlichkeitsrechte besser gewahrt hätten, begrüße ich die angestoßene öffentliche Diskussion über die Sicherheit speziell von Kommunalpolitikern“, heißt es darin.
Landscheidt sagt später, er habe eine Diskussion über Hetze, Hass und Bedrohung anstoßen wollen, nicht über seine Person.
Diskutiert wurde über Hass und Hetze, aber oft ging es in erster Linie um diese Frage: Soll sich ein Bürgermeister deswegen bewaffnen? Horst Seehofer verneinte die Frage, auch der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul stimmte ihm zu. Viele solidarisierten sich mit Landscheidt. Dass er eine Schusswaffen wollte, dafür gab es in der Öffentlichkeit aber höchstens Verständnis – keine Zustimmung.
Nur einige Tage nach der ersten Schlagzeile über Landscheidts Klage wird in Sachsen-Anhalt auf das Büro des SPD-Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby geschossen. Eine Woche zuvor tritt in Niedersachsen ein Bürgermeister wegen Drohungen zurück. Eine Woche später tut sein Kollege in Kempen dasselbe.
Es ist eine Häufung von Fällen, die eindrucksvoll zeigt, wie überfällig eine Diskussion über Hass und Hetze war. Doch lassen sich diese Phänomene mit Waffen bekämpfen? Man hätte Landscheidt gern nach seiner Erfahrung gefragt, denn er hat hautnah erlebt, wie schnell sich die Debatte gegen einen wenden kann. Er vermeidet es aber, öffentlich über das Thema zu sprechen. Auch auf eine Anfrage für diesen Text antwortet sein Presseteam nicht. Sie scheinen die Lehre gezogen zu haben: Waffen und Politik vertragen sich eher schlecht.
Je tiefer man in die Welt der Waffen eintaucht, desto deutlicher werden ihre Widersprüche. Die jungen Jäger präsentieren auf der Feel-Good-Plattform Instagram ihr neu entdecktes Lebensgefühl – eines zu dem es gehört, Tierleben zu nehmen. Der Polizist sagt, die Pistole gehöre zu seiner Ausrüstung wie ein Stift, und ist gleichzeitig froh, dass er nie schießen musste.
Die Schützen vergleichen ihr Hobby mit Kampfsport und Marathonlaufen, wissen aber, dass “schwarze Schafe” mit einem Gewehr weitaus mehr anrichten können als mit einem Turnschuh. Der Waffenhändler träumt von einer vergangenen Welt, obwohl sein Geschäft besser läuft denn je. Ein Politiker will seine Familie schützen – und wird dadurch zur Zielscheibe einer aus den Fugen geratenen Diskussion.
Sind die steigenden Zahlen von Waffen und Waffenbesitzern also gefährlich? Auch die Antwort fällt widersprüchlich aus. Eine Waffe ist, in den Händen von Menschen wie dem Polizisten Sven Heidermann, dem Schützen Frank Stock oder der “wilganen” Fee Brauwers, keine Bedrohung. In anderen Händen aber schon.
Fest steht: Immer mehr Menschen besitzen eine Waffe. Die Widersprüche, die daraus entstehen, sind kein Anlass zum Wegschauen. Sie könnten der Anfang eines überfälligen Gesprächs sein.
***
In Kooperation mit dem Master-Studiengang Journalismus der Universität Leipzig
Haben Sie Anmerkungen oder einen Fehler entdeckt? Wir freuen uns über Ihre Mail.
RP ONLINE, 18.11.2024