Geschrieben von Lena Köhnlein
Gestaltet und programmiert von Phil Ninh
Programmiert von Sakander Zirai
Geschrieben von Lena Köhnlein
Gestaltet und programmiert von Phil Ninh
Programmiert von Sakander Zirai
In zwei Minuten muss ich los. Wo ist mein Zugticket? Ich schüttele meine Tasche aus, Stifte kullern über den Boden, zwischen Taschentüchern, Kajal und Lippenstift finde ich: nichts! Noch eine Minute. Jackentasche? Punktlandung. Jetzt aber los! Es ist 7.45 Uhr, ich sprinte zur Bushaltestelle. Geschafft. Ab zum Bahnhof, dort wartet der Rhein-Niers-Express auf mich, mit dem ich täglich von Düsseldorf nach Kleve fahre.
So wie mir geht es in Nordrhein-Westfalen Millionen Menschen. Mehr als jeder zweite der knapp 8,9 Millionen Erwerbstätigen pendelt zur Arbeit täglich in eine andere Stadt (Stand: 2014). 22 Prozent aller erwerbstätigen Pendler brauchen 30 bis 60 Minuten, 4,3 Prozent von ihnen pendeln sogar länger als eine Stunde zur Arbeit. (Stand: 2012). Ein Großteil der Pendler nutzt lieber das Auto als den öffentlichen Personennahverkehr. Im Jahr 2012 lag der Anteil der Autofahrer laut Statistischem Bundesamt bei 68,8 Prozent.
Wie genau die Pendlerströme zwischen den einzelnen Städten und Kreisen in NRW verlaufen, sehen Sie in der oben stehenden interaktiven Karte.
Ich fahre die 104 Kilometer hin und zurück lieber mit dem Zug. Mein Monatsticket kostet 118 Euro. Mit dem Auto wäre ich im Schnitt bei etwa 200 Euro pro Monat. Also steige ich täglich erst in den Bus, dann in die Bahn und anschließend laufe ich noch 15 Minuten. In Kleve arbeite ich für drei Monate in der Lokalredaktion. Schon Wochen vorher jammere ich über die bevorstehenden Strapazen von vier Stunden Arbeitsweg täglich. „Im Zug lernst du bestimmt viele andere Leute kennen“, baut mich eine Freundin im Vorfeld auf. Die Realität sieht anders aus. Als ich in den Zug steige, starren alle auf ihr Smartphone, haben Kopfhörer im Ohr oder telefonieren. Brottüten rascheln, auch ich packe mein Frühstück aus, genervte Blicke. Gerade am Morgen möchte jeder seine Ruhe im Zug haben. Wenigstens ist die Bahn beinahe leer, viele müssen längst vor mir losfahren, um um acht im Büro zu sein. Ich stecke mir meine weißen Kopfhörer ins Ohr: „Fest & Flauschig“, der Podcast von Jan Böhmermann und Olli Schulz. Leider ist nach 40 Minuten Schluss mit meiner aktuellen Sendung. Danach dauert es nochmal so lange bis zum Ziel. Wenn ich Glück habe. Denn häufig geht auf der Strecke etwas schief. Verspätungen sind noch das kleinste Übel. Einmal, an einem stürmischen Tag, schlug der Blitz ins Gleis ein. Alle Fahrgäste mussten in Bedburg-Hau aussteigen – eine Station vor Kleve. Einziger positiver Aspekt: Endlich kam ich mal mit den anderen Fahrgästen – fast 16.000 Menschen pendeln täglich nach Kleve – ins Gespräch. Wir schimpften plötzlich gemeinsam über die Bahn und suchten nach Wegen, ans Ziel zu kommen.
Auch Firmen in NRW müssen sich auf die reisenden Arbeitnehmer einstellen und werben nicht selten mit besonders pendlerfreundlichen Jobs. Henkel und Vodafone zum Beispiel geben an, mit flexiblen Arbeitszeit-Modellen zu arbeiten. Wichtig sei nicht so sehr, dass die Mitarbeiter vor Ort sind, sondern dass die Ergebnisse stimmen. Bei Vodafone kommt die Firma etwa einem Arbeitnehmer aus Baden-Württemberg entgegen. Dieser bezieht werktags eine kleine Wohnung in Düsseldorf. Allerdings kann er bereits donnerstags zu seiner Familie fahren und freitags von zuhause aus arbeiten, sagt eine Sprecherin. Die Deutsche Post ermuntert ihre Mitarbeiter in Bonn dazu, nicht mit dem Auto anzureisen, beispielsweise durch die Nutzung von Job-Tickets oder durch ein Programm namens „Mit dem Rad zur Arbeit“. Von 8000 Mitarbeitern am Standort nutzen über 60 Prozent öffentliche Verkehrsmittel, das Fahrrad oder kommen zu Fuß, sagt ein Sprecher. Bei allen anderen wirbt die Firma für Carsharing, nach eigenen Angaben auch aus ökologischen Gründen.
Ich steige in Kleve aus dem Zug: Es regnet. In Düsseldorf war traumhaftes Wetter. Ich hole meinen Regenschirm und Turnschuhe – die ich immer dabei habe – aus der Tasche und tausche meine Pumps gegen Sneakers. Als Pendler muss ich wenigstens auf die Dinge vorbereitet sein, auf die ich Einfluss habe. Noch 15 Minuten zu Fuß, dann bin ich nach zweieinhalb Stunden endlich in der Redaktion.
Der Großteil meiner Kollegen nimmt Rücksicht auf meine Situation. Trotzdem stehe ich immer unter Zeitdruck, denn tagsüber versuche ich meine Aufgaben so schnell zu erledigen, dass ich pünktlich am Abend in meine Bahn steige. In der Mittagspause gehe ich manchmal einkaufen – zumindest in der Drogerie. Einen Supermarkt in der Innenstadt gibt es nicht.
Ich bin Einpendler, so nennen Verkehrsexperten Menschen, die täglich zum Arbeiten in die Stadt kommen. Viele Städte profitieren von dieser Gruppe. „Die Menschen erledigen zum Teil ihre Einkäufe in der Stadt, etwa auf dem Nachhauseweg oder in der Mittagspause. Das führt zu einer Erhöhung der Kaufkraft innerhalb einer Kommune“, sagt eine Sprecherin vom Handelsverband Nordrhein-Westfalen. Auch Restaurants und Cafés profitieren davon. Für Einpendler-Städte wie Düsseldorf oder Köln bedeuten die Menschen zwar ein gutes Geschäft. Sie stellen mancherorts aber auch die Infrastruktur vor Probleme.
Zum Beispiel in Holzwickede. Nirgends in NRW ist die Pendlerquote so groß: In die 17.500-Einwohner-Gemeinde pendeln täglich 10.500 Arbeitnehmer. Viele kommen über die A44 und die B1. Das merkt die Stadt an vielen Stellen. In der morgendlichen Rush-Hour gibt es viel Stau. „Diese geballte Verkehrsbelastung übersteigt mitunter die vorhandenen Kapazitäten, denn die Einfahrtswege sind begrenzt“, sagt Stefan Thiel, zuständig für Wirtschaftsförderung und Stadtentwicklung. Weil das Gewerbegebiet gut läuft, werden sich in den nächsten Jahren dort auch noch weitere Firmen ansiedeln. Daher versucht die Gemeinde gemeinsam mit den Unternehmen, Holzwickede auch als Wohnstandort zu bewerben. „Wir versuchen besonders für junge Familien attraktiv zu bleiben und die Einpendler zu Einwohnern zu machen“, sagt Thiel. Dadurch würde sich auch das hohe Verkehrsaufkommen reduzieren.
Das Gegenteil von Holzwickede ist Alfter mit über 23.300 Einwohnern. Die Gemeinde liegt in der Nähe zu Köln und Bonn, hier wohnen viele junge Familien. Allerdings verlassen täglich knapp 10.200 Menschen die Stadt, um in den großen Städten zu arbeiten, während nur 2600 nach Alfter einpendeln. Ein Risiko für den Einzelhandel, denn viele Besorgungen erledigen die Auspendler auch in den Großstädten. Die Gemeinde möchte dem Sterben der Geschäfte entgegenwirken, etwa durch Aktionen, die auf regionale Betriebe aufmerksam machen, sagt Ursula Schüller, zuständig für Wirtschaftsförderung und Tourismus in Alfter.
Auch ich habe ein bisschen Geld in der Stadt ausgegeben, in der ich arbeite. Bei einem Bäcker in Kleve habe ich mir ein Brötchen geholt. Wegzehrung für den Abend. Ich setze mich in den Zug, freue mich auf Zuhause, auf meinen Freund, auf etwas Leckeres zu Essen. Doch das dauert noch etwa zweieinhalb Stunden. Immer mehr Menschen steigen in den Zug. Der Geruch von Schweiß und süßem Parfüm mischt sich unter das Geplapper der Reisenden. Die abendlichen Fahrten sind anstrengender als die am Morgen. Der Zug ist voll. Kinder rennen auf den Fluren, ein Baby schreit, hinter mir telefoniert ein Mann lautstark in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Ich setze mich auf einen anderen Platz weiter vorne im Zug. Hier ist es etwas ruhiger. Das Geplapper von Böhmermann und Schulz ertrage ich am Abend nicht. Ich hole meinen Roman hervor. Beim Lesen vergeht die Zeit am schnellsten.
„Nächster Halt: Krefeld.“ Immerhin. Nur noch 30 Minuten bis Düsseldorf. Ich schreibe eine WhatsApp-Nachricht an meinen Freund: „Bin gleich da!“. Als ich die Tür zu unserer Wohnung aufschließe, ist er gerade angekommen. „Hallo, wurde spät heute, wir müssen noch einkaufen!“, sagt er. Ich bin genervt. Also nochmal raus.
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RP ONLINE, 19.12.2024