Synästhesie
Geschrieben von Lea Hensen
Gestaltet und programmiert von Phil Ninh
Synästhesie
Geschrieben von Lea Hensen
Gestaltet und programmiert von Phil Ninh
Philip Blana liebt Musik, sie hat ihn immer schon stark beeinflusst. Der studierte Geisteswissenschaftler wählt seine Worte mit Bedacht. Er liebt die Gitarren, wenn sie dunkelrot klingen, sagt er. „Klaviertöne sind wie eine Art bunter Regen. Nur ohne das Fallen – die Töne werden auf dem Boden erzeugt.“ Ganz anders der Ton der Trompete: „Er ist viereckig und wenn er nachlässt, verzieht er sich zu einem Stern.“ Eine Stimme sei wie die Kurven eines EKGs. Nur dass sie grün sei, wenn andere von „männlich“ reden. Und gelb, wenn es eine weibliche Stimme ist.
Blana ist ein empfindsamer Typ. Aber dass er die Welt mit anderen Augen sieht, hat der 30-jährige Online-Redakteur aus Hennef erst mit 13 Jahren erkannt. Damals habe er sich mit seinem Cousin unterhalten, über die Farben und Formen, die er bei Musik hört. „Du weißt aber schon, dass andere das nicht haben?“, habe sein Cousin ihn gefragt. Blanas Cousin ist Synästhetiker. „Erst ab dem Zeitpunkt wusste ich: Ich bin es auch.“
Eine Wahrnehmung mit vermischten Sinnen
Synästhesie ist ein neurobiologisches Phänomen: Zwei oder mehrere Sinnesmodalitäten sind miteinander verknüpft, wird ein Sinn aktiviert, reagiert ein anderer gleich mit. Philip Blana beherrscht von Geburt an das sogenannte Farbenhören: Alles, was er hört, wird vor seinem inneren Auge von Farben und Formen begleitet. Mit Halluzinationen hat das nichts zu tun: Er ist neurologisch und psychisch gesund und seine normale Wahrnehmung wird durch die synästhetische nicht gestört. Blana sieht die Farben und Muster immer - nur wenn er Fieber hat, seien sie geschwächt, sagt er. Welche Farbe zu welchem Klang passt, kann er zuordnen und auch erinnern.
Eine Wahrnehmung mit vermischten Sinnen - andere Menschen erleben das nur unter Drogeneinfluss. Synästhesie gilt heute als besondere Fähigkeit, die angeboren, wahrscheinlich erbbar ist. Angaben zu ihrer Häufigkeit sind verschieden: Jüngsten Studien zufolge hat sie einer unter 25 Personen. Einer von vier Angehörigen ersten Grades eines Synästhetikers hat ebenfalls eine Synästhesie.
Oft bleibt das Phänomen ein Leben lang unbemerkt
Das Farbensehen ist nur eine Variante: Viele Synästhetiker sehen Buchstaben und Zahlen angeordnet in Raum und Farbe oder finden, dass „Mittwoch“ anders als „Donnerstag“ schmeckt. Andere sagen, dass helle Töne ihre Haut streicheln. Oder hören beim Sehen einer Bewegung einen Klang.
Theoretisch ist jede Kombination von Sinneswahrnehmungen denkbar. Mehr als 60 Varianten hat die Forschung beschrieben. Aber die Dunkelziffer unter Synästhetikern ist hoch. Peter Weiss-Blankenhorn forscht am Institut für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich und in der Uniklinik Köln. „Tatsächlich sind sich viele Synästhetiker gar nicht ihrer Besonderheit bewusst“, sagt der Wissenschaftler. „Jeder geht davon aus, dass die eigene Wahrnehmung normal ist. Erst durch Medienberichte oder Gespräche in der Familie, in der es Angehörige mit Synästhesie gibt, fallen synästhetische Wahrnehmungen auf.“ Oft bleibe das Phänomen ein Leben lang unbemerkt.
Weiss-Blankenhorn forscht zur Graphem-Farb-Synästhesie, der farblichen Wahrnehmung von Buchstaben oder Zahlen. Mit circa zwei Prozent der Bevölkerung ist das die wohl häufigste Form. Das Forschungsinteresse an Synästhesie ist mit der Verbesserung der technischen Möglichkeiten gewachsen, sagt er. So konnten die Jülicher und Kölner Neurowissenschaftler zeigen, dass in der Gehirnmasse von Synästhetikern das Areal verdichtet ist, das für die Verknüpfung von Wahrnehmungen zuständig ist.
Das Wort „Synästhesie“ setzt sich zusammen aus den altgriechischen Worten syn (=zusammen) und aisthesis (=Empfindung). Bei einer Synästhesie löst ein Sinnesreiz einer bestimmten Sinnesmodalität, wie zum Beispiel akustischer Klang, eine zusätzliche Wahrnehmung aus, wie das Sehen von Farben. Möglicherweise sind die Sinnesmodalitäten im Gehirn miteinander verknüpft. Kölner und Jülicher Neurowissenschaftler haben festgestellt,dass die Gehirnsubstanz von Synästhetikern in dem Areal, das für Verknüpfung von Sinneseindrücken zuständig ist, verdichtet ist.
Der auslösende Sinnesreiz wird „Inducer“ genannt, die synästhetische Zusatzempfindung „Concurrent“. Die Wahrnehmungsverknüpfung erfolgt immer in eine Richtung: Ein und derselbe Synästhetiker sieht zum Beispiel beim Musikhören Farben, aber er hört deswegen nicht automatisch Musik, wenn er Farben sieht.
Die Wahrnehmungen lassen sich nicht unterdrücken, aber Synästhetiker können lernen, sie kognitiv zu kontrollieren. Die synästhetische Zusatzwahrnehmung überlagert sich nicht mit dem Wahrgenommenen, sondern wird vor einer Art „innerem Auge“ sichtbar. Dadurch wird Synästhesie zu einer zusätzlichen Wahrnehmungskompetenz, nicht zu einer Störung.
Synästhetiker sind also voll funktionsfähig und gesund. Sie können ihre Wahrnehmungen klar einander zuordnen und voneinander unterscheiden. Im Unterschied zur Halluzination weiß der Synästhetiker, dass seine zusätzliche Empfindung real nicht existiert.
Jüngsten Studien zufolge ist einer unter 25 Personen Synästhetiker. Angaben zur Häufigkeit von Synästhesie sind vage: Früher ging man von einer Häufigkeit von 1:200 bis 1:2000 aus. In etwa 40 Prozent der Fälle treten bei einem Synästhetiker gleich mehrere Varianten auf: Theoretisch ist jede Kombination von Sinneswahrnehmungen denkbar. Es sind mehr als 60 Varianten der Synästhesie bekannt. Synästhesie ist angeboren, wahrscheinlich erbbar: Ein Viertel der Angehörigen ersten Grades eines Synästhetikers hat ebenfalls eine Synästhesie.
Eine Art Begabung
Weiss-Blankenhorn – selbst kein Synästhetiker – betont: „Synästhetiker wollen für gewöhnlich ihre Wahrnehmung nicht missen.“ Viele hätten mit der Zeit gelernt, ihre Eindrücke zu kontrollieren. Für die meisten sei diese Art der Wahrnehmung völlig normal. Von Nachteilen oder gar einem Leidensdruck sei für sie nicht die Rede - immerhin haben sie die Welt nie anders erlebt.
Vielmehr sei Synästhesie eine Art Begabung: Synästhetiker haben ein gutes Gedächtnis, heißt es, denn ihre Wahrnehmung ermöglicht ihnen viele Assoziationen. Auch gilt Synästhesie als besonderer Zugang zu Kreativität. Die Liste an Künstlern mit Synästhesie ist lang: Wassily Kandinsky malte „musikalische Bilder“, Franz Liszt, Van Gogh oder Goethe verarbeiteten diese Art der Wahrnehmung in ihrer Kunst. Auch die Sänger Billy Joel, Lady Gaga und Pharrell Williams behaupten, ihre Wahrnehmung sei synästhetisch.
Auch Philip Blana hat mit den Jahren die Vorteile seiner Wahrnehmung erkannt: Mit Leichtigkeit gelingt es ihm, in einem Musikstück Tonabstufungen herauszuhören. „Früher saß ich stundenlang am Computer und habe Tonspuren separiert, um zu sehen, welche Effekte sie bei mir auslösen“, sagt er. Selber Musik machen will er nicht. „Das würde für andere zu experimentell klingen, wenn ich meiner visuellen Wahrnehmung folge. Sie entspricht ja nicht unbedingt dem, was für andere harmonisch klingt.“
Neue Eindrücke kosten Kraft
Ein anderes Phänomen, das mit Synästhesie assoziiert wird, ist Hochsensibilität. Dass seine Wahrnehmung seinen Charakter beeinflusst, davon ist Philip Blana überzeugt. „Ich würde mich schon als introvertiert bezeichnen“, sagt er. Neue Eindrücke kosten ihn Kraft und für bestimmte Dinge bevorzugt er Ruhe und Zeit. Wenn er sich mit Freunden trifft,will er Musik im Hintergrund vermeiden. „Sonst übertönen meine Eindrücke das Gespräch.“ Clubs oder Bars besucht er nicht gern, dafür geht er oft auf Konzerte, wo die Musik im Vordergrund steht.
„Synästhesie ist so ein großer und wichtiger Teil für mich, dass ich es manchmal schade finde, dass andere das nicht haben“, sagt er. Er ist überzeugt, dass er durch seine Wahrnehmung Erkenntnisse über sich selbst erlangt hat, für die andere länger brauchen.
Nur manchmal habe ihn alles überfordert. Wie damals, während der Fahrstunden, als der Fahrlehrer mit ihm auf die Autobahn fuhr. „Durch die Vielfalt der Geräusche hatte ich das Gefühl, die Situation nicht kontrollieren zu können.“ Die Fahrstunde habe er dann abgebrochen, den Führerschein nie zuende gemacht. Heute stört ihn das nicht. „Ich bin gerne langsamer unterwegs, am liebsten zu Fuß. Dann kann ich mich bewusst auf meine Wahrnehmung konzentrieren.“
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Dieser Test ist nicht wissenschaftlich fundiert, sondern soll dazu anregen, die eigene Wahrnehmung zu reflektieren.
Verbinden Sie mit Zahlen oder Buchstaben bestimmte Farbempfindungen? Ist die Zahl 3 zum Beispiel grün und der Buchstabe A eher rot?
Können Sie Zahlen oder Buchstaben ein Geschlecht zuordnen? Wäre ein A zum Beispiel weiblich und eine 7 eher männlich?
Können Sie Wochentagen oder Monaten bestimmte Farbempfindungen zuordnen? Ist zum Beispiel Montag rot und Donnerstag grün?
Wenn Sie an Monate, Wochentage oder Jahreszahlen denken: Sind sie räumlich angeordnet, befindet sich August zum Beispiel in der Mitte oder rechts?
Verbinden Sie das Hören von Klängen mit Farbwahrnehmungen?
Verbinden Sie bestimmte Worte mit einem Geschmack?
Synästhesie-Forschungsgruppe der Medizinische Hochschule Hannover (MHH), Leitung: Dr. Markus Zedler
Forschungsprojekt an der Universität Regensburg „Neurokognitive Mechanismen der Graphem-Farb-Synästhesie“. Leiter: PD Dr. Gregor Volberg
Forschungszentrum Jülich Prof. Dr. Peter Weiss-Blankenhorn
Warum für manche Menschen ein A rot ist (Artikel FZ Jülich)
Synästhesieforschung an der Universität Zürich – Lehrstuhl für Neuropsychologie
Synästhesieforschung am psychologischen Institut der Universität Bern
The Synesthesia Battery - Website mit Online-Synästhesie-Tests und Fragebögen
Deutsche Synästhesie Gesellschaft
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RP ONLINE, 21.12.2024