Essay
Geschrieben von Alev Doğan
Fotografiert von Andreas Bretz
Gestaltet und programmiert von Phil Ninh
Essay
Geschrieben von Alev Doğan
Fotografiert von Andreas Bretz
Gestaltet und programmiert von Phil Ninh
Es gibt reflexartige Mechanismen, die sich stets mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wiederholen. Und so sicher wie jedes Jahr Millionen Muslime ihren Fastenmonat Ramadan begehen, so sicher flammen dieselben Diskussionen wieder auf: Schüler, die zu hungrig sind, um sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Erwachsene, die Kreislaufprobleme bekommen und an deren Leistungsfähigkeit nicht nur in verantwortungsvollen Berufen gezweifelt wird, wenn sie den ganzen Tag nichts essen und trinken. Darf etwa ein Neurochirurg auf Nahrung und Flüssigkeit verzichten, wenn er am Abend eine komplizierte Operation leiten muss?
Wenn das gemeinsame Mittagessen mit den Kollegen ebenso zum Alltag gehört wie Einladungen zum Dinner und der Kaffee am Morgen, stellt sich eine provokante Frage: Passt der Ramadan mit seinen strengen Vorgaben überhaupt in das 21. Jahrhundert?
Das tut er – wenn man ihn seinem eigenen Kontext und Fähigkeiten entsprechend lebt.
Im Fastenmonat Ramadan geht es nicht darum, von morgens bis abends zu hungern und danach so viel zu essen wie man nur kann. Und trotzdem drehen sich sowohl innerhalb als auch außerhalb muslimischer Gemeinschaften die Debatten zum Fastenmonat stets um den Verzicht auf Essen und Trinken und die damit einhergehenden möglichen Auswirkungen. Doch der Sinn des Fastenmonats ist es nicht, sich im Hungern zu beweisen. Die eigenen körperlichen Grenzen auszuloten, kann bereichernd sein, doch im Fokus steht weniger der Leib und mehr die Seele. Einmal im Jahr sollen in dieser Zeit die geistigen und spirituellen Fähigkeiten vertieft werden. Das Fasten an sich ist nur der Weg zum Ziel. Das Ziel ist die Askese, eine Auszeit von materiellen Werten, eine spirituelle Reinigung, durch die jeder sich selbst, sein Leben und seine Haltung, das Gute und das Böse in sich hinterfragen soll. Als eine „Auszeit, um die innere Batterie wieder aufzuladen und sich seiner selbst und seines Glaubens zu vergewissern“, beschreibt es der Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster, Mouhanad Khorchide. Zwar ist der Monat von Verzicht gekennzeichnet, doch dieser ist kein Selbstzweck, sondern Methode: Der Verzicht auf Essen, Trinken, Alkohol und Sex soll dem Einzelnen Klarheit bringen, indem jeder Form von Ablenkung entsagt wird, sodass man sich und seine Abhängigkeiten jedes Jahr aufs Neue überprüfen kann.
Wer will und kann, wird sich in diesem einen Monat frei machen von den Bedürfnissen, denen nachzugeben man sich schon lange angewöhnt hat. Und dieses Wollen und Können sind die Kriterien, anhand derer sich entscheidet, wie aufgeklärt, tolerant und letztlich auch zeitgemäß der gelebte Islam und die Muslime sind.
Eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Fasten soll nur, wer will. Jede Form von Druck oder Diskriminierung muss im Keim erstickt werden. Gerade in Freundeskreisen junger Muslime, wo mitunter ein pubertärer Eifer entstehen kann, besteht das Risiko von Gruppenzwang. Dagegen hilft nur unnachgiebige Aufklärung. Neben der Familie kommt auch Lehrern hier eine entscheidende Rolle zu, spielt sich doch ein Großteil möglicher Konflikte wie so oft an Schulen ab. Islamische Religionslehrer können Aufklärungsarbeit leisten, ohne dass es bei den Schülern so wirkt, als wolle man ihnen etwas verbieten. Und auch religiöse Vorbilder wie Imame müssen klar kommunizieren, dass an niemandes muslimischer Identität gezweifelt werden darf, wenn er – aus welchen Gründen auch immer – nicht fastet.
Die Frage des Könnens ist eine, die vor allem eins benötigt: Eigenverantwortung. Es liegt im Ermessen jedes Einzelnen, einzusschätzen, ob und in welchem Ausmaß das Fasten seine Gesundheit und Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Genauso wie die Gesellschaft die individuelle Entscheidung für das Fasten respektieren muss, muss auch der Einzelne seine Grenzen der Belastbarkeit akzeptieren. Zumindest darf sein Versuch, diese Grenzen im Rahmen des Fastenmonats auszutesten, zu keiner Zeit negative Auswirkungen auf andere haben, die von seiner geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit abhängen. Natürlich ist es wünschenswert, in jedem Beruf stets topfit zu sein. Wenn jedoch Busfahrer, OP-Schwestern, Kita-Pädagogen oder Rettungs- und Sicherheitskräfte einen Schwächeanfall haben, kann das mitunter schwerwiegendere Auswirkungen haben.
Letztlich ist die Frage, wie Deutschland mit Ramadan umgeht, untrennbar verknüpft mit dem Umgang der Muslime selbst mit ihrem Fastenmonat. Je weniger dogmatisch und je offener die muslimischen Gemeinden ihn begehen, desto entspannter dürfte auch der Blick von allen anderen ausfallen.
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Bellal Motih, 20, ist Jura-Student aus Mönchengladbach.
„Ich bin ‘Neuling’ was das Fasten angeht, könnte man sagen, denn das ist mein zweiter Ramadan, an dem ich faste. In meiner Kindheit hatte ich keinen besonderen religiösen Bezug, meine Eltern haben nie gefastet. Religiöse Traditionen wurden in unserer Familie eher als Teil unserer Kultur gesehen. Erst, als ich an der Uni mit der muslimischen Hochschulgemeinde in Kontakt kam, hat sich mein Wissen über den Islam erweitert, und ich habe den Glauben für mich entdeckt.“
„Am Anfang ist mir das Fasten schon schwer gefallen, und ich habe auch aus Versehen immer mal etwas gegessen. Überall liegen heutzutage Snacks herum und automatisch greift man zu. Jetzt fällt es mir nicht mehr so schwer. Man merkt im Ramadan, dass Essen auch eine Beschäftigung ist. Und wenn man auf diese Beschäftigung verzichtet, dann gewinnt man plötzlich viel neue Zeit. Ramadan ist eine besondere Zeit, für die man dankbar ist, und auf die man sich freut.“
Eda Yildirim, 21, ist aus Düsseldorf und beginnt im September ihr duales Studium bei der Bundespolizei.
„Ich faste seit ich 14 Jahre alt bin. Am Anfang war es typisches Kinder-Fasten. Ich wollte unbedingt auch wie die Erwachsenen fasten und meine Mutter sagte: Okay, aber nur für ein paar Stunden, von neun bis zwölf Uhr mittags zum Beispiel. Je älter und reifer ich geworden bin, umso wichtiger wurde es mir, nicht nur mit dem Magen zu fasten, sondern auch mit dem Geist, also durch meine Handlungen. Ich versuche, mehr Geduld zu haben, nicht immer so schnell auf 180 zu sein – ich bin sehr temperamentvoll – und auch bewusster zu beten.“
„Eine Freundin von mir verzichtet während Ramadan auf Plastik. Das sind so Dinge, die man sich immer vornimmt, und an Ramadan hat man die Motivation, es durchzuziehen. Und ich überlege in dem Monat bewusst, wofür ich meine Energie einsetze und frage mich: Ist das meine Energie wert? Schließlich habe ich davon nicht so viel während ich faste, und das gibt einem auch einen neuen Blick auf manches – ein wertvoller Perspektivwechsel.“
Selim Salman, 34, ist Software-Ingenieur aus Düsseldorf.
„An Ramadan gefällt mir am meisten, dass es eine Zeit der Gemeinsamkeit ist. Es ist eine Freudenzeit, in der man sich gegenseitig zum Abendessen besucht, Mahlzeiten mit Nachbarn, Freunden und Bedürftigen teilt. Hier in Deutschland ist es natürlich schon sehr anders. Man sieht es Düsseldorf zum Beispiel nicht an, dass gerade ein besondere Zeit ist. Aber das ist okay, wir sind eine Minderheit und machen eben kleine Sachen. Wir treffen uns mit Freunden und der Familie, und es kommen auch Nicht-Muslime zum Fastenbrechen. Sie finden, es ist eine gute Idee, in Gesellschaft gemeinsam zu Abend zu essen, und das ist irgendwie auch sehr schön.“
„Schwer fällt mir am Fasten eigentlich nichts, nur, jedes Jahr die gleichen Fragen zu beantworten: Den ganzen Tag nichts essen? Wie, und auch kein Wasser? Ist das nicht ungesund? Aber es ist auch eine Meditationszeit und eine gute Geduldübung.“
Iman Akboua, 20, ist BWL-Studentin aus Düsseldorf.
„Ich kann mich noch genau an mein erstes richtiges Fasten erinnern: Da bin ich zehn Minuten vor dem Iftar – also dem Fastenbrechen – eingeknickt und habe was gegessen. Mittlerweile geht das Fasten ganz einfach für mich. Ich bin normalerweise sehr verfressen, aber an Ramadan ist es, als ob ein Schalter umgelegt wäre. Neben dem Fasten an sich versuche ich auch, meine Zeit weniger mit Quatsch wie Serienschauen zu verschwenden und mehr Zeit mit Sinnvollem zu verbringen. Ich helfe während Ramadan zum Beispiel meiner Mutter mehr beim Haushalt und versuche insgesamt netter zu sein.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass unser Fasten für irgendwen problematisch ist. Früher an der Schule war es anders, da gab es immer wieder Hänseleien. Aber an der Uni ist das zum Glück gar kein Thema mehr. Man macht alles ganz normal, geht wie immer in seine Vorlesungen – nur wenn man sich die Nachrichten anschaut, bekommt man das Gefühl, dass unser Fasten anscheinend doch für manche problematisch ist.“
Mouhanad Khorchide(47) leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, ist Autor zahlreicher Abhandlungen über den Islam und Mitbegründer der Muslimischen Gemeinschaft NRW.
Was haben Sie heute früh vor Sonnenaufgang gegessen, Herr Khorchide?
Khorchide Wassermelone. Das ist auch ein guter Wasserspender und eignet sich insofern besonders gut.
Sie haben einen Sohn. Wie haben Sie die Fastenzeit Ihrem Sohn nähergebracht, als er jünger war?
Khorchide Meinem Sohn war es als Kind sehr wichtig, nicht ausgeschlossen zu sein. Er wollte unbedingt mit uns nach Sonnenuntergang das Fastenbrechen zelebrieren und eben auch fasten. Das sah dann so aus, dass er jede Stunde dieses oder jenes „als Ausnahme“ aß. Im Ergebnis saßen wir abends zusammen und in seiner Wahrnehmung hatte auch er gefastet. In den späteren Jahren hat er mal Playstation-Fasten betrieben, ein anderes Jahr hat er sich vorgenommen, jeden dritten Tag seine Großeltern anzurufen. Und darum geht es eigentlich während des Ramadan. Nicht um das Nicht-Essen, sondern darum sich selbst und sein Handeln zu hinterfragen.
Würden Sie diese Haltung auch den muslimischen Gemeinden attestieren?
Khorchide Leider beobachte ich in vielen Gemeinden, dass sie sich nicht an den Bedürfnissen der Menschen orientieren. Es ist immer noch sehr stark die Denke verbreitet: Entweder man fastet ganz, oder eben gar nicht. Entweder ist man ein guter Muslim oder ein schlechter. Das ist fatal, denn damit nimmt man den Menschen ihre Religion weg. Jeder muss für sich individuell entscheiden können, wie er fastet. Ich selbst bemerke an Tagen, an denen ich viel unterwegs bin und viel reden muss, dass mich das Fasten besonders erschöpft. An diesen Tagen richte ich mich für das Fastenbrechen nach der Zeit in Mekka, wo die Sonne schon um circa 19 Uhr untergeht und nicht erst nach 21 Uhr. Worauf es ankommt, ist die ethische und spirituelle Dimension des Fastenmonats.
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RP ONLINE, 11.11.2024