Coronavirus in Ischgl
Coronavirus in Ischgl
Geschrieben von Rudolf Gruber und Henning Rasche
Ischgl - Die Grenzen zu sprengen, das ist schon lange der Wunsch des Günther Aloys. Er wollte eine Achterbahn in die Alpen zimmern, 25 Kilometer lang, und Kaiserpinguine herschaffen. Er wollte die Welt aufmerksam machen auf Ischgl, seinen Heimatort. Und nun ist die Welt aufmerksam geworden. Nur nicht wegen einer Achterbahn oder ein paar Pinguinen, sondern wegen eines Virus.
Die Geschichte des Bergbauerndorfes Ischgl im Paznaun-Tal ist eine Geschichte des Aufstiegs. 1963 bauten sie hier eine der längsten Seilbahnen Österreichs, seitdem geht es nur noch bergauf. Der Skitourismus hat aus einem der ärmsten Dörfer eines der reichsten gemacht. Höher, schneller, weiter. Die Grenzen sprengen.
Günther Aloys, 72, silbernes, schulterlanges Haar, ist in den vielen Jahrzehnten des Aufstiegs Ischgls oberster Grenzsprengmeister. Er holte 1995 Elton John für ein Konzert ins Dorf, und als Simply Red kam, ließ er den Inn rot färben. Ischgl ist für Aloys das Produkt, das nur verkauft werden muss.
Aloys ging voran, eröffnete Luxushotels, Bars, einen Nachtclub. Um den alten Dorfkern, in der Mitte die Kirche, entstand das Ibiza der Alpen. Immer mehr Hotels, Après-Ski-Bars und Restaurants machten auf. Immer mehr Touristen kamen. In der Wintersaison 2018/2019 besuchten 2,3 Millionen das Paznauntal.
Aus dem beschaulichen Dorf Ischgl mit 1617 Einwohnern wurde eine Gelddruckmaschine. Und Gelddruckmaschinen stoppt niemand gern.
Anfang März 2020 druckt die Ischgler Maschine noch fleißig. Am Sonntag, 8. März, veröffentlicht das „Schatzi“, eine Après-Ski-Bar am Ende der Talabfahrt, ein Foto auf Instagram: „Party like a Schatzi star. Full house on Sunday!“ Ziemlich viele bierselige Skifahrer, eng beieinander.
Während die „Schatzi Stars“ den sonnigen Skitag feiern, wütet längst das Coronavirus in Ischgl. Am späten Abend des 4. März geht beim österreichischen Gesundheitsministerium eine Meldung aus Reykjavik ein: acht Isländer, die gerade aus Ischgl heimgekehrt waren, seien an Covid-19 erkrankt. Die Skisaison in Ischgl läuft bis zum 12. März weiter.
In Henrik Ibsens Gesellschaftsdrama „Ein Volksfeind“ entdeckt der Arzt Thomas Stockmann, dass das Heilbad mit Kolibakterien vergiftet ist. Aber weil alle im Ort ganz gut von dem Bad leben, will das niemand wahrhaben. Ist Ischgl Ibsens Heilbad der Spätmoderne?
Dass sie in Tirol von den Alpen ganz gut leben, ist offensichtlich. Das Land ist die Touristen-Hochburg Österreichs, noch vor Wien und Salzburg. 2019 kamen 12,4 Millionen Gäste, mehr als die Hälfte davon aus Deutschland. Der Umsatz betrug 8,4 Milliarden Euro. Jeder dritte Euro in Tirol wird im Tourismus verdient.
Und Geld ist Macht. Seit dem Kriegsende 1945 regiert die konservative Österreichische Volkspartei, die ÖVP, Tirol wie einen Gutshof. Landeshauptmann Günther Platter, so etwas wie der Ministerpräsident, ist gleichsam oberster Lobbyist. Sein ÖVP-„Wirtschaftsbund“ stellt in der Tiroler Wirtschaftskammer die überlegen stärkste Fraktion.
Doch damit geben sich die Geschäftsleute nicht zufrieden. Die 50 größten Unternehmer, Seilbahnbetreiber, Baulöwen, Hoteliers, aber auch ein Speckfabrikant, haben 2003 einen Bund mit dem sinnigen Namen „Die Adlerrunde“ geschlossen. Ohne sie fällt keine politische Entscheidung von Bedeutung. Die Adlerrunde versteht sich als „Schnittstelle für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft“. Ein eleganter Deckmantel für allerlei Klüngeleien, sagen Kritiker.
Eine der schillerndsten Figuren der Adlerrunde ist Franz Hörl. Der ÖVP-Abgeordnete vertritt die Interessen der Tiroler Seilbahnbesitzer. Hörl, ein ungeschlachtes Original, soll dafür gewesen sein, Ischgl und das Paznauntal erst zu einem späteren Zeitpunkt unter Quarantäne zu stellen. Laut dem „Standard“ soll er sich deswegen sogar Schreiduelle mit seinem Landeshauptmann geliefert haben, was Hörl bestreitet.
Selbst Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, notabene ÖVP-Bundeschef, hielt es zu Beginn der Corona-Krise Mitte Februar für ratsam, sich mit der Adlerrunde zu treffen – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Auffällig: Der Unternehmerzirkel zählt zu den wichtigsten Spendern der ÖVP. Die machtlose Opposition beklagt, dass die Adlerrunde sich politischen Einfluss einfach kaufen könne.
Bis heute ist geheim, was der Kanzler mit Vertretern der mächtigsten Wirtschaftslobby Tirols in einem Innsbrucker Nobelhotel zu besprechen hatte. Kurz hat die Gerüchte bisher nicht kommentiert, wonach er von Liftbetreibern, Hoteliers und Gastronomen aus Ischgl unter Druck gesetzt worden sei, keinesfalls das vorzeitige Ende der Wintersaison auszurufen. Die schwarz-grüne Bundesregierung beschloss jedenfalls erst zehn Tage später, das öffentliche Leben in Österreich massiv einzuschränken.
Nun ermittelt in Ischgl die Staatsanwaltschaft Innsbruck. Aber so richtig überzeugt von dem Verfahren scheinen die Tiroler Staatsanwälte nicht zu sein. Es gebe den Hinweis, dass bereits Ende Februar eine positiv getestete Mitarbeitern eines Gastronomiebetriebes nicht den Behörden gemeldet worden sei. „Um welchen Betrieb es sich dabei handeln soll, konnten wir bis dato allerdings nicht in Erfahrung bringen“, sagt Staatsanwalt Hansjörg Mayr.
Den Ermittlern liege zudem die Schilderung eines Verbraucherschutzvereins vor, „die allerdings inhaltlich nur auf Medienberichten oder auf Informationen vom Hörensagen gründet“. Die Staatsanwaltschaft Innsbruck sei daher bestrebt, „zu sachlichen, objektiven und fundierten Informationen zu gelangen, um die Mitteilungen zu objektivieren“, sagt Mayr. Im Fokus der Ermittlungen steht: niemand.
Sachliche, objektive und fundierte Informationen besagen, dass nicht nur die Isländer sich infiziert haben. Am 7. März wird ein Barkeeper des „Kitzloch“ positiv auf das Coronavirus getestet. Das Land Tirol empfiehlt am nächsten Tag, die Bar zu desinfizieren und das Servicepersonal auszutauschen. Erst am 9. März wird das „Kitzloch“ geschlossen, erst am 11. März darf keine Après-Ski-Bar mehr öffnen.
Der Verbraucherschutzverein, dessen Schilderungen die Staatsanwaltschaft für vage hält, wird geführt von Peter Kolba, früherer Abgeordneter im Nationalrat. Er treibt eine Sammelklage voran, die im Auftrag von Urlaubern Schadenersatz in Millionenhöhe verlangt.
Zwischen Politik und Seilbahnen herrsche in Tirol ein „besonderer Filz“, sagte Kolba kürzlich dem „Standard“. Das Verfahren sei daher in Innsbruck nicht in guten Händen und gehöre zur Korruptionsstaatsanwaltschaft in Wien. Kolba ärgert sich, dass die Polizei behaupte, die Ermittlungen in Ischgl seien wegen der Quarantäne schwierig. „Gleichzeitig hat die Polizei ausreichend Muße, um etwa Ski-Touren-Geher mit hohen Geldstrafen abzustrafen“, sagt er.
Es heißt, die Natur könne der Mensch nicht besiegen. In den Skigebieten aber gelingt das ganz gut. 1600 Schneekanonen feuern in Ischgl Kunstschnee auf die 239 Pistenkilometer, wenn es zu warm ist oder nicht schneit. Vielleicht wird man größenwahnsinnig, wenn man das Wetter austricksen kann. Vielleicht glaubt man, was ist schon ein Virus.
Das Virus hat die Gelddruckmaschine Ischgl zum Erliegen gebracht. Den Hotels, Restaurants, Bars, auch den Seilbahnen, fehlen die Einnahmen von beinahe zwei Monaten Wintersaison. Experten rechnen mit insgesamt vier Milliarden Euro Verlust in ganz Tirol. In Ischgl haben rund 3000 Saisonkräfte keine Arbeit mehr.
Die Saisonarbeiter, viele aus Osteuropa und Deutschland, verkaufen im „Schatzi“ Flying Hirsch, Jägermeister mit Red Bull. Sie frittieren auf der Idalp, dem Panoramarestaurant im Skigebiet, auf 2320 Metern Höhe Tonnen an Pommes oder servieren eine Flasche Corona für 4,70 Euro. Nun steckt ein Großteil von ihnen in Quarantäne.
Auf der Website des Tourismusverbandes haben sie ziemlich viele Dokumente bereitgestellt. Eine Chronologie der Ereignisse etwa, die zeigen soll, dass der Rest der Welt Anfang März auch noch nicht so recht wusste, was das wird mit diesem Virus. Aber es gibt auch ein Dokument, in dem die Saisonarbeiter zu Wort kommen. Es ist lesenswert.
Jochen Strische, der im Hotel Brigitte als Barkeeper arbeitet, wird dort mit den Worten wiedergegeben: „Natürlich haben wir alles bekommen: Frühstück, Mittag- und Abendessen plus Getränke, alles frei. Eigentlich Essen, wann immer du wolltest und Getränke auch. Dadurch, dass wir alle im Hotel gewohnt haben, war es uns auch möglich einige Aktivitäten wie Tischtennis, Billard, Darts und Fitnessstudio auszuüben. Uns fehlte es an nichts.“ Luxusquarantäne, nennt er das.
Sonst gönnen sich Touristen aus Deutschland, England, den Niederlanden und zunehmend aus Osteuropa eine Luxusquarantäne in Ischgl. In Günther Aloys‘ Arthotel Elizabeth kostet im März 2021 eine Woche im Doppelzimmer 4865 Euro. Die Bar „Schatzi“ befindet sich dafür im Erdgeschoss. Ein Sechs-Tages-Skipass kostete in diesem März 307,50 Euro. Und dann hat man erstmal nur gefrühstückt.
Das offizielle Leitmotiv des Tiroler Skiorts Ischgl lautet: „Relax – if you can.“ An normalen Tagen könnte man das Motto so lesen: Hier kannst du relaxen, wenn du es dir leisten kannst. Jetzt aber, da nichts mehr normal ist, kann sich gerade niemand entspannen. Auch nicht mit reichlich gefülltem Portemonnaie.
Klar, dass sie sich in Ischgl fragen, ob alles wieder werden kann, wie es war. Auch klar, dass man fragen muss, ob auch alles wieder werden sollte, wie es war.
Wenn man von den Hoteliers in Ischgl, den Betreibern der Bars, der Restaurants, wissen will, wie es ihnen nun geht, dann erfährt man: nichts. Dutzende Anfragen bleiben unbeantwortet. Auch der Pressekontakt des Tourismusverbandes lässt einen Fragenkatalog auch auf Nachfrage unbeantwortet. Von der Skischule antwortet eine Dame: „Wir bitten Sie, sich bezüglich Fragen zu Covid-19 und Ischgl bitte direkt an Herrn Kurz – Bürgermeister von Ischgl zu wenden.“
Von Werner Kurz, ÖVP, behaupten manche, er habe den Einwohnern geraten, nicht mit den Medien zu sprechen. Er aber spricht. „Dass zahlreiche Menschen in Ischgl infiziert wurden, bedauern wir zutiefst“, sagt er etwa. Oder: „Dass wir nun in den Medien stark kritisiert werden, schmerzt natürlich.“ Man wolle aber aus den Ereignissen lernen. „Selbstverständlich arbeiten wir intensiv am Morgen, an den nächsten Saisonen“, sagt Kurz.
Ischgl hat schon immer irgendwie am Morgen gearbeitet. Hunderte Millionen Euro haben sie investiert, um eines der modernsten Skigebiete Österreichs zu bauen. Die Schlepplifte haben sie durch Sessellifte ersetzt und die Sessellifte haben sie beheizt. Skiurlauber haben es gern komfortabel. Sie reisen dorthin, wo es schön ist, und wo man sich sehen lassen kann.
Ob sich die vielen Touristen in Ischgl nun nochmal sehen lassen, ist die Frage. Im früheren Bergbauerndorf hoffen sie darauf. In den Dokumenten des Touristenverbandes sind Facebook-Kommentare von Gästen gesammelt. Alle erzählen, dass sie wieder kommen. Etwas seltsam, weil sich auf der Seite im Internet auch allerhand Leute finden, die sagen: Nie wieder Ischgl.
Immerhin in der „Brigitte“ verlosen sie schon wieder „Fünf Mal Urlaub in Ischgl“. Man solle die Sommerfreuden dort genießen, wo die Natur alles bietet, schreiben sie. Das würde Günther Aloys gefallen.
Also, kommen die Touristen wieder, Herr Aloys? „Wesentlich wird sein, dass wir alle in dieser herausfordernden Situation zusammenhalten und gemeinsam für die Zukunft überlegen“, sagt er. Die Gäste müssten erleben, „wie sehr wir uns um ihre Gesundheit sorgen und mit welchen Maßnahmen wir ihnen eine unbeschwerte und schöne Zeit bei uns ermöglichen“.
Nicht ausgeschlossen, dass er dabei auch an eine Achterbahn denkt, oder an Kaiserpinguine. Relax, if you can.
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RP ONLINE, 11.11.2024