Geschrieben von Horst Dreier

Deutschland hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem multi-religiösen Staat entwickelt. Das birgt ein hohes Maß an Konfliktpotenzial in sich. Wie wehrhaft ist das Grundgesetz in Fragen der Religion?

Religionsfreiheit ist ein besonders altes und zugleich ein höchst aktuelles Grundrecht. Ihre historischen Ursprünge reichen bis weit in die frühe Neuzeit zurück. Manche sehen in ihr geradezu ein „Ur-Grundrecht“, die Mutter aller anderen Grundrechte. Für unser heutiges Verständnis ist bedeutsam, dass das Bundesverfassungsgericht die Religionsfreiheit seit jeher sehr weit auslegt. Von ihr umfasst sind nicht nur die Kernbereiche einer Glaubensgemeinschaft wie Kultus und Dogma, sondern auch weit darüber hinausreichende Handlungen und Betätigungen, solange sie nur einen Bezug zur religiösen Motivation des Einzelnen aufweisen. Im Grunde ist die Religionsfreiheit dadurch zu einer Art allgemeiner religiöser Handlungsfreiheit geworden.

Doch selbst dieses Verständnis ist mit Blick auf den einschlägigen Artikel 4 des Grundgesetzes noch zu eng. Denn wie es dort unmissverständlich heißt, ist „die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ gewährleistet. Man müsste eigentlich, um genau zu sein, immer von der „Religions- und Weltanschauungsfreiheit“ sprechen. Da Weltanschauungsgemeinschaften dezidiert a-religiöse, wenn nicht anti-religiöse Grundsätze vertreten können, ist in der Summe zu konstatieren: die in Artikel 4 des Grundgesetzes garantierte Freiheit umfaßt den gleichen Schutz für Gläubige wie Ungläubige, für Atheisten und Humanisten – und für gänzlich Gleichgültige. Denn die negative Freiheit, nicht zu glauben, ist ebenso von der Norm umfasst.

Die fast grenzenlose Weite der Grundrechtsgarantie ist keineswegs selbstverständlich, und in der Anfangszeit der Bundesrepublik hat das Bundesverfassungsgericht denn auch die Auffassung vertreten, die Religionsfreiheit umfasse nur die „bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen“ gewachsenen Glaubensrichtungen. Doch Mitte der 1970er Jahre hat es diese Einschränkung diskret korrigiert und die Offenheit des Grundgesetzes für den „Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen“ unterstrichen.

Dieser Pluralismus war schon in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 garantiert und wurde im Grundgesetz bekräftigt. Alle Religionen und Weltanschauungen genießen aufgrund der umfassenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen gleichen Schutz. Doch korrespondierte der unbegrenzten Offenheit der Rechtsgarantien lange Zeit keine reale religiöse Vielfalt. Vielmehr machten noch Mitte der 1960er Jahre Protestanten und Katholiken 95 Prozent der bundesrepublikanischen Bevölkerung aus. Religiöse Pluralität meinte bis dahin kaum mehr als Bi-Konfessionalität.

Das hat sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch geändert. Deutschland hat sich von einem bi-konfessionellen zu einem multi-religiösen Staat entwickelt. Es gibt Buddhisten und Hindus, Bhagwan-Jünger und Aleviten – und es gibt wieder jüdische Gemeinden. Den gravierendsten Faktor aber bildet der Umstand, dass mittlerweile rund vier bis fünf Millionen zum Teil sehr religiöse Muslime in Deutschland leben. Im Wachstum begriffen ist zudem die Gruppe der Konfessionslosen, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung mittlerweile bei 35 Prozent liegt. Zum Vergleich: Der Anteil der Katholiken beträgt rund 28 Prozent, der der Protestanten nur noch rund 26 Prozent.

Es ist evident, dass die wachsende Vielfalt ein höheres Maß an Konfliktpotenzial in sich birgt. Die vielen einschlägigen Streitfälle der letzten Jahre legen davon ein deutliches Zeugnis ab: Kreuze in Klassenzimmern oder Gerichtssälen, staatliche Warnungen vor sogenannten Sekten, Schächten und Kopftuch, Schwimmunterricht für muslimische Mädchen, so lauten die bekannten Stich- und Reizworte. Über diese hier nicht zu diskutierenden Einzelfälle hinausgehend, wird oft – sei es bang, sei es beißend – die ganz grundsätzliche Frage gestellt, ob der Islam denn überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Dazu sind aus verfassungsrechtlicher Sicht zwei grundsätzliche Hinweise vonnöten. Zum einen ist festzuhalten, dass Religionsgemeinschaften weder binnenorganisatorisch so verfasst sein müssen wie freiheitliche Verfassungsstaaten noch in ihren Glaubensinhalten Deckungsgleichheit mit dessen Prinzipien und Postulaten (wie etwa: Demokratie, Gewaltenteilung, Gleichberechtigung der Geschlechter) aufzuweisen hätten. Man denke nur an die katholische Kirche. Ganz generell gilt somit: Keine Religion muss ihre Glaubenswahrheiten nach dem Muster der Grundsätze freiheitlicher Verfassungsstaaten zuschneiden. Von daher ist die Ausgangsfrage schon falsch gestellt.

Doch darüber sollte der zweite wichtige Punkt nicht aus dem Blickfeld geraten. Daraus, dass eine Religionsgemeinschaft Glaubenssätze vertreten darf, die mit freiheitlichen Verfassungsprinzipien nicht übereinstimmen, folgt nicht, dass es der Religionsgemeinschaft gestattet wäre, diese Glaubenssätze auch in der politischen Wirklichkeit zu realisieren. Religionsfreiheit ist kein Freibrief für die Untergrabung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder den offenen Kampf gegen sie. Sie bietet keine Deckung für Bestrebungen oder Handlungen, die deren Existenz gefährden – auch nicht für religiös motivierte.

Sowenig es mithin angeht, die Weltreligion des Islam pauschal als gewaltsam, friedens- und freiheitsgefährdend zu charakterisieren und ihr die Kompatibilität mit westlichen Demokratien rundweg und ein für alle Mal abzusprechen, so blauäugig und unverantwortlich wäre es, die Existenz fundamentalistischer Strömungen und Gruppen (nicht nur, aber eben auch) im Islam zu negieren oder zu bagatellisieren, die den Prinzipien und Prämissen liberaler Verfassungsstaaten nicht nur fremd, sondern feindlich und kämpferisch gegenüberstehen.

In solchen Fällen ist entschlossener Selbstschutz geboten. Das Instrumentarium reicht von der Versagung des Körperschaftsstatus über die Beobachtung auch durch den Verfassungsschutz bis hin zum Verbot religiöser Vereinigungen, wie das etwa 2001 im Falle des „Kalifatstaates“ des Kölner Hasspredigers Metin Kaplan geschehen ist.

Die streitbare Demokratie des Grundgesetzes macht vor religiösen Vereinigungen also nicht halt.

Der Autor (64) ist Professor für Öffentliches Recht an der Uni Würzburg. Von ihm ist das Buch „Staat ohne Gott“ (C.H. Beck, 26,95 Euro) erschienen.

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Info
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Der Autor (64) ist Professor für Öffentliches Recht an der Uni Würzburg. Von ihm ist das Buch „Staat ohne Gott“ (C.H. Beck, 26,95 Euro) erschienen.

Kommentar

Zur Verfassung Deutschlands

Geschrieben von Henning Rasche

Das Grundgesetz ist auch nicht mehr das, was es mal war. 70 Jahre gehen an nichts und niemandem spurlos vorbei. Falten zieren das Gesicht, die Haare – falls noch vorhanden – sind ergraut, der Bauch wird dicker. Der Verfassung geht es da kaum anders als dem Bürger. Die Zahl der Artikel im Grundgesetz ist in den vergangenen 70 Jahren um ein Drittel gestiegen, die Textmenge insgesamt hat sich verdoppelt. Die Verfassung, rank und schlank gestartet, hat mit den Jahren zugelegt. Sie ist dadurch auch sperriger geworden, umständlicher, manchmal ist sie nicht mal mehr verständlich. Man schaue bloß auf Artikel 13, die Unverletzlichkeit der Wohnung, oder in die Finanzverfassung.

Doch auch die durchschnittlichsten Politiker, die am Grundgesetz herumdokterten, haben eines nicht geschafft: der Verfassung ihren Zauber zu nehmen. Bis heute löst dieser juristische Text eine mächtige Faszination aus. Wobei „bis heute“ ausblendet, dass 1949, als der Parlamentarische Rat seine Arbeit beendete, niemand auf die Idee gekommen wäre, in ergriffenen Jubel zu verfallen. Gut, dass sich das geändert hat. Mit Blick auf die erschütternde deutsche Geschichte, auf das geteilte Land, gab es wenig, was so zur Einigkeit der Gesellschaft beigetragen hätte wie diese großartige Verfassung. Gerade weil das Grundgesetz auch 2019 noch so modern ist, sollte die Arbeit des Parlamentarischen Rates deutlicher und bewusster gewürdigt werden. Die 70 Abgeordneten waren so mutig, Deutschland mit liberalen Freiheitsrechten, dem Sozialstaat, dem Rechtsstaat, in die Zivilisation zurückzuführen. Ja, das Grundgesetz hat sich als Glücksgriff erwiesen. Es finden sich darin Sätze, die – denkt man die deutsche Geschichte mit – einen anfassen können, auch rühren dürfen. Diese Unerschütterlichkeit in Worten, diese Lakonie, ist bemerkenswert. Die Lektüre des Textes sei aufrichtig empfohlen.

Nichtsdestotrotz schwebt bei diesem 70. Geburtstag unübersehbar die Frage im Raum, ob es nicht Zeit für die Rente wäre. Oder zumindest für eine Frischzellenkur. Ohnehin ging man ja davon aus, dass das Grundgesetz, daher der provisorische Name, nur bis zur Wiedervereinigung halten müsste. Aber 2019 ist – noch ein Glücksfall – nicht mehr die deutsche Teilung ein verfassungsmäßiges Problem, sondern die nächste Stufe der Integration: Europa. Je verzahnter die Mitglied­staaten arbeiten, je deutlicher die Europäische Union im Chor der Weltgemeinschaft mit einer Stimme singen will, desto geringer der Einfluss des Grundgesetzes.

Am deutlichsten sieht man diesen Konflikt an den Gerichten. Früher sagte man, über dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sei nur der blaue Himmel. Dort schwebt indes der Europäische Gerichtshof in Luxemburg. Ein Gericht, mit dem deutsche Juristen noch immer hadern. Auch weil es den Schwerpunkt eher auf Gleichheit denn auf Freiheit setzt. Man darf bei alledem nicht vergessen, dass es das Bundesverfassungsgericht war, das die Grundrechte im Alltag erfahrbar gemacht hat.

Deutschland braucht keine neue Verfassung, das Grundgesetz ist auch mit 70 ideal für diese Republik. Es könnte aber doch noch der Tag kommen, an dem sich die Europäische Union eine Verfassung gibt. Nur sie könnte das Grundgesetz ablösen. Dafür, freilich, bräuchte es Entschlossenheit und Mut. Ganz wie vor 70 Jahren.

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Von Horst Dreier (Text), Phil Ninh (Design und Programmierung)


RP ONLINE, 18.04.2024

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