Gastbeitrag

Im Zentrum steht der Mensch

Geschrieben von Armin Laschet

Als Provisorium für 46 Millionen Westdeutsche geschaffen, ist das Grundgesetz seit Jahrzehnten ein Garant für Stabilität in einem geeinten Deutschland. Ein Gastbeitrag von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes.

70 Jahre Grundgesetz – das ist nun wirklich ein Anlass zum Feiern! Es ist bis heute das Fundament für die Erfolgsgeschichte des freiheitlichen und demokratischen Deutschlands. Starke Wurzeln unserer Verfassung liegen in Nordrhein-Westfalen, genauer gesagt in Bonn. Denn im Bonner Museum Koenig kam 1948 der Parlamentarische Rat zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Die 65 Männern und Frauen hatte damals keine geringere Aufgabe, als eine Verfassung für das junge Nachkriegsdeutschland zu entwerfen. Und wir können heute feststellen, dass nur selten in der Geschichte in so kurzer Zeit ein so hervorragendes Dokument wie unser Grundgesetz geschaffen wurde. Dabei sind der Bund und die Länder in ihrer Entstehung eng miteinander verknüpft. Nur wenige Jahre nach seiner Staatswerdung hat Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit den anderen Ländern die Bundesrepublik Deutschland als Zusammenschluss „der Deutschen in den Ländern“ mitgegründet. So hat der Landtag von Nordrhein-Westfalen am 20. Mai 1949 dem Grundgesetz zugestimmt, das drei Tage später, am 23. Mai 1949, in Kraft treten konnte. Zu diesem Zeitpunkt besaß das Land Nordrhein-Westfalen noch keine eigene Verfassung. Erst am 11. Juli 1950 und damit fast vier Jahre nach der Gründung Nordrhein-Westfalens trat die Verfassung des Landes in Kraft.

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben eine parlamentarische Demokratie entworfen, die freiheitlich und zugleich wehrhaft ist, sie schrieben 19 unabänderliche Grundrechte für Jede und Jeden fest und stellten den Menschen und seine Würde ins Zentrum. Eine solch kompakte und abgesicherte Grundrechtsordnung mit einer derartigen Konzentration von Werten ist eine Besonderheit. Und sie hat sich bewährt. Manch einer mag behaupten, die großen Fragen und Herausforderungen unserer Zeit erforderten Anpassungen im Verfassungstext. Das sehe ich anders. Denn die Werte unseres Grundgesetzes sind nicht dem Zeitgeist unterworfen. Die zentrale Norm in Artikel 1 Absatz 1, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, ist – vor dem Hintergrund unserer deutschen Geschichte, aber auch aktuell – unser Auftrag und die Prämisse all unseres Handelns. Aufgrund seiner festen Bindung an Werte und nicht einen Zeitgeist gibt das Grundgesetz auch Antworten auf Fragen unserer Zeit, etwa bei der Digitalisierung oder auch bei ethischen Herausforderungen im Umgang mit Künstlicher Intelligenz: Der Mensch steht im Zentrum, er darf niemals nur Objekt staatlichen oder wirtschaftlichen Handelns werden. Daraus lässt sich vieles ableiten, ohne dass bewährte Verfassungsformeln geändert werden müssten. Unsere Verfassungsnormen sind keinesfalls statisch, sondern erfahren durch die Auslegung des Bundesverfassungsgerichts immer wieder „Verjüngung“, die dem gesellschaftlichen Wandel Rechnung tragen.

Der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger hat vor vielen Jahren den Begriff „Verfassungspatriotismus“ geprägt, dennoch ist das Grundgesetz lebendig und wird von der Gesellschaft mit Leben gefüllt. Es braucht Achtung vor den Regeln und den Institutionen – verbunden mit tiefer Zuneigung zu dem Land und den Menschen. Wir alle als Demokraten sind gefordert, seine, unser aller Werte gegen Angriffe zu verteidigen. Gerade im Hinblick auf die Europawahl müssen wir unsere Stimme erheben, von unserem Stimmrecht Gebrauch machen und für unseren Wertekanon einstehen. Das Grundgesetz war die demokratische Antwort des Parlamentarischen Rates auf die Erfahrung des Nationalsozialismus und ich hoffe, dass die Wählerinnen und Wähler am 26. Mai allen Gegnern unseres freiheitlich-demokratischen Wertekonsenses an der Wahlurne eine deutliche Antwort geben werden.

Vor 70 Jahren, am 23. Mai 1949, trat das Grundgesetz in Kraft. Ursprünglich als reines Provisorium für 46 Millionen Menschen in den westlichen Besatzungszonen geplant, ist es nunmehr seit Jahrzehnten Garant für Stabilität in einem geeinten Deutschland. Auch wenn unser Grundgesetz die Bezeichnung nicht im Titel trägt: Wir können dankbar sein für die freiheitlichste Verfassung der deutschen Geschichte. Und wir können auf diese Verfassung stolz sein.

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Von Armin Laschet (Text), Phil Ninh (Design und Programmierung)


RP ONLINE, 26.07.2024

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